Von tanzenden Schweinen und hungrigen Wölfen
Schweinesee nicht Schwanensee lautet der Titel eines wunderbaren Kinderbuches, das jetzt im Hamburger Aladin-Verlag erschienen ist. Geschrieben und gezeichnet wurde das Buch von James Marshall und Maurice Sendak, aus dem Amerikanischen übersetzt hat es Ebi Naumann. Im englischen Original heißt es Swine Lake. Schweinesee handelt von einem älteren, hungrigen Wolf, der durch Zufall in eine Ballettaufführung gerät. Zuvor hat er in einer gefundenen Zeitung gelesen: „Endlich da - Bolschoink-Ballett - Saugut!"
Das Theater in der Stadt, in der der Wolf lebt, heißt: MettROPOL-Theater. Auf den Plakaten sind die Gebrüder Eisbein, Odette Sauskaya und andere Künstler angepriesen. Zuerst will der Wolf sich auf die Zuschauer-Schweine vor dem Theater stürzen, doch er besinnt sich eines Besseren. Eine steinreiche dicke Sau schenkt ihm ihre Logenkarten und er kriegt den besten Platz im ganzen Theater. Zu seiner großen Überraschung und zur Freude seines leeren Magens sind Bühne und Zuschauerraum von echten Schweinen bevölkert.
Von der Loge aus zur Bühne ist es bloß ein Katzensprung, denkt er. Das Saallicht im Theater erlischt langsam, das Publikum ist mäuschenstill. Der Wolf hält den Atem an. Beifall für den Dirigenten brandet auf, die Musik ertönt und dann erscheinen die ersten tanzenden Schweine in bunten Kostümen und lächelnd. Dem Wolf klappt vor Staunen der Unterkiefer runter. Die Schweine noch fetter und saftiger als auf den Fotos, denkt er. Eigentlich will er das erste auswählen, aber dann lässt er sich gefangen nehmen von der Geschichte. Das Hochzeitspaar tritt auf und fast gleichzeitig stürzt ein Ungeheuer auf die Bühne, schnappt sich die Braut und schleppt sie davon.
Im zweiten Akt schlag ich zu, denkt der Wolf während der Pause. Doch dann sieht er auf der Bühne die Höhle des Ungeheuers. Ein Kochtopf dampft schon, in dem die Braut gekocht werden soll. Doch dann erscheint eine alte Frau, gibt dem Ungeheuer eine Nektarine woraufhin das in tiefen Schlaf fällt. Die alte Frau reißt sich die Maske vom Gesicht und sie ist tatsächlich der Bräutigam. Beide fliehen sie, verfolgt vom Ungeheuer. Doch dann erscheint eine wunderbare Zaubersau, die beide rettet. Ende.
Der Wolf hat doch über das Theaterstück völlig vergessen, zuzuschlagen. Am nächsten Tag plündert er sein Sparschwein, kauft eine neue Logenkarte für Schweinesee und wartet auf die Szene mit dem Ungeheuer. Doch plötzlich, ohne sich bewusst zu werden, warum, springt er mit einem gewaltigen Satz auf die Bühne und tanzt, mitgerissen von der Musik über die Bühne. Die Schweinebraut fragt ihn „wer sind sie?" doch er antwortet nur schnell: „Tanz weiter." Dann schleppt er die Braut von der Bühne. Der Beifall des Publikums ist unbeschreiblich. „Interessante Interpretation", ruft einer der Zuschauer.
Hinter der Bühne lässt der Wolf die Schweineballerina fallen und rennt nach Hause. Am Tag danach findet er eine Besprechung in der örtlichen Zeitung. „Der als Wolf und nicht wie üblich als Ungeheuer verkleidete Tänzer war zwar ein wenig schwerfälllig, verlieh aber der Rolle einen Hauch von Authentizität", schreibt der Kritiker. „Auch der spektakuläre Sprung aus der Loge hatte durchaus Klasse, der Auftritt war der Höhepunkt des Abends", endete die Kritik. Der Wolf reißt sich die Besprechung natürlich heraus und pinnt sie an seine Wohnzimmerwand. „Ein echter Wolf, das will ich meinen" sagt er noch bevor er ein paar Tanzschritte macht, die sich gewaschen haben.
Der Illustrator Sendak (1928-2012) war als Dekorateur beim größten Spielzeugladen in New York, wo er von einem Verleger 1950 entdeckt wurde. Er bekam viele Preise. Unter anderem die Hans-Christian-Andersen-Medaille und den Astrid Lindgren Memorial Award. Der Texter Marshall (1942-1992) studierte Musik, entschied sich dann aber, als Kinderbauchautor und Illustrator tätig zu sein. Das Buch ist nicht nur für kleine Ballettfreundinnen und -freunde geeignet, sondern sicherlich auch für erwachsene Fans vom Musiktheater.