Übrigens …

Die Suche nach demAusweg; eine bittersüße Erkenntnis

Sie hat immer geschrieben – die Ex-Theaterdramaturgin Dorothea Renckhoff, die aus dem Ruhrgebiet stammt und seit einigen Jahren in Köln lebt: Opernlibretti, Theaterstücke, Hörspiele, Programmheft-Texte. Doch mit Verfallen wagt sie den Schritt auf ein Glatteis-Genre, den literarisch anspruchsvollen Roman mit intellektuellem Gegenwartsbezug.

Verfallen ist die Geschichte einer Selbstfindung, einer von Melancholie durchtränkten Beziehung zwischen einem jungen Gymnasiasten (Thomas) und einer Sängerin (Lucille), die beide die Realität zumindest zeitweise aus den Augen verlieren und sich in einen fiktiven Fantasieraum zurückziehen. Es ist aber auch die Erzählung eines Alptraumes zwischen Tag und Nacht, Erfolg und Rückschlag, der Kostbarkeit eines musikalischen Augenblicks und der Zerbrechlichkeit des Alters, der sich der Junge und die Künstlerin stellen müssen.

Thomas erlebt zum ersten Mal die Oper mit Bühne, Maske, Charakter, Figur, Spiel und Verwandlung. Diese Welt nimmt ihm den Atem: Die private Wirklichkeit zieht sich von ihm zurück. Lucille wiederum, die gerade noch studiert hatte und nun als Sängerin ein fremdes, schwieriges Terrain erobert, altert brutal und schnell. Nichts ist mehr alltäglich oder normal. Ihre „Jahrhundertstimme“ jubelt auf – und versinkt bald darauf wieder. Sie welkt wie eine seltene Blume. Der Zauber lässt nach…

Die Autorin zitiert aus dem Wunderreich der Oper und des Theaters allgemein Symbole und Rituale, Wahres und Erfundenes. Die ganze Welt von Thomas und Lucille wird zur Bühne – Liebe und Verzweiflung, Suche und Finden, Schönheit und Verfall, Menschen und Monster, Stimme und Kunst, Erfahrung und Abschied, Garten und Straße, Mittelmaß und Genie. Alles besitzt eine Doppelwirkung, alles ist Sein und Schein zugleich, alles ist Sieg und Scheitern in einem Moment. Realität und Traum verschwimmen, Thomas und Lucille werden zu Partnern übernatürlicher Kräfte.

Dorothea Renckhoff verlässt ihr berufliches Milieu, das sie von innen und außen kennenlernte, zu keiner Zeit. Das Theater wird zur Option des Ausstiegs – gleichzeitig aber auch zur tödlichen Belastung. Verfallen ist ein sensibles Netz aus surrealen Versatzstücken und der Gefahr, sich in ihm zu verfangen. Jugend, Alter, Oper, Gesang und Zeitlosigkeit: Das Theater ist ein Hort für Verwandlung und Verfremdung, aber auch für das Entdecken eigener Werte in einem altersunabhängigen Prozess. Jeder junge Mensch ist ein Suchender, zwischen Fantasie und Alltäglichkeit muss er seinen Weg gehen. Das ist mit seelischen Schmerzen der Erkenntnis verbunden.