Letztes Aufbäumen im Lost Place
Firs, dem uralten Diener, gehört die erste und die letzte Szene. Man weiß ja, wie er enden wird in dieser kurzen, letzten, zutiefst berührenden Szene, wenn die gesamte Familie nebst Freunden das Gut und den zugehörigen „Kirschgarten“ verlässt und die Türen verrammelt. Firs haben sie vergessen. Wenn Rainer Kühn gleich zum Auftakt von Evgeny Titovs Inszenierung am Staatstheater Wiesbaden mit krummem Rücken und unter erkennbaren Beschwerden durch den Salon schlurft, ist das ein originalgetreues Zitat dieses letzten Auftritts. Das Landgut wirkt längst wie ein Lost Place. Die graue Farbe blättert von den Wänden, ein paar marode Stühle steht in der Gegend herum. Sie werden später wenig überraschend unter der Last ihrer Benutzer zusammenbrechen. Als einzige zusätzliche Möblierung steht links in der Ecke ein verrottetes Klavier - das Relikt einer untergehenden Kultur. Und dann gibt es natürlich noch den berühmten Schrank, an den Gajew seine durchgeknallte Rede adressieren wird, die bei Titov nur angedeutet wird: Ganz hinten an der Bühnen-Rückwand steht er, genauso farblos und angegammelt wie die Wände, und er hat eine Schublade, in die sich Firs zum Sterben legen wird. Im Schrank, so scheint es manchmal, hausen die Gespenster. Die Gespenster der Vergangenheit: Firs wird sich am Ende zu ihnen gesellen.
In diese längst untergegangene Welt bricht die überspannte Reisegesellschaft der Gutsherrin ein, die nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt in das Paradies oder in die Langeweile des russischen Landlebens zurückkehrt. Ljubow Ranjewskaja hatte das Vergessen gesucht, um den Tod ihres Sohnes zu verdrängen: durch Wein und Tanz, durch manch verschwenderische Feier und wohl auch durch allzu viele Medikamente. Das Verdrängen hat sie gut genug gelernt, um nun auch ihre Mittellosigkeit zu negieren, die dazu führen wird, dass ihr Gut mitsamt dem Kirschgarten, dem Stolz der Region, versteigert werden muss. Mit einem letzten, kraftlosen Aufbäumen gegen den Untergang kommt nun Leben ins Gespensterhaus - doch auch des Landadels Art zu leben gehört der Vergangenheit an. Der Gegensatz zwischen Duri Bischoffs und Florian Schaafs Bühnenbild und der sich am Gestern festhaltenden, aber aufgekratzten Gesellschaft verspricht eine spannende Tschechow-Interpretation. Allzu viel Neues erfahren wir allerdings nicht über das Stück, doch Titovs Regie folgt einem klaren Konzept.
Der Regisseur inszeniert verhältnismäßig konventionell. Sein Ehrgeiz richtet sich nicht auf die Erfindung neuer Interpretationsansätze oder eine Aktualisierung der Stückaussage für das 21. Jahrhundert. Er hält die Aufführung in der Schwebe zwischen Komödie und Tragödie - und damit zwischen den Absichten des Autors einerseits und des legendären Uraufführungs-Regisseurs Konstantin Stanislawski andererseits. Tschechow wollte eine Komödie geschrieben haben, Stanislawski dagegen sah eine Tragödie in dem Stück und prägte mit seiner Auffassung jahrzehntelang die Tschechow-Interpretation auf den Bühnen dieser Erde. Titov findet für beide Interpretationen Argumente, obwohl seine Inszenierung weiter entfernt ist vom elegischen Naturalismus eines Stanislawski oder Peter Stein als von den jüngeren, komödiantischen Versuchen. Seine Inszenierung macht Angebote an das Publikum, das sowohl Möglichkeiten zum Amüsement als auch Gelegenheiten zur tiefen Einfühlung in einzelne Charaktere findet. Dass der Schreiber dieser Zeilen sich eher mit den tragisch grundierten Szenen wohlfühlte, mag auf persönliche Präferenzen zurückzuführen sein.
Vor allem, wenn einzelne Schauspielerinnen aus dem aufgedrehten, komödiantischen Erzählduktus heraustreten und auf ihre gebrochenen Biografien verweisen, gelingen Titov großartige Szenen. Margit Schulte-Tigges als herrlich verdrehte Gouvernante Scharlotta Iwanowna zum Beispiel beglaubigt auf ergreifende Weise die Einsamkeit ihrer Figur und deren Unverbundenheit sowohl mit der kleinen, überschaubaren Welt auf dem Landgut als auch mit der mondänen weiten Welt in Paris. Sie berichtet von ihrer unbekannten Herkunft: Nicht einmal ihr Geburtsdatum kennt die bei einer Artistenfamilie in einem fahrenden Zirkus aufgewachsene Frau. Bei Schulte-Tigges‘ Monolog scheint die flott gespielte Aufführung plötzlich für eine Weile stillzustehen. - Mehr noch gelingt eine solche Intervention der Hauptfigur des Stückes: Anne Lebinskys Ranjewskaja erzählt vom frühen Tod ihres Sohnes, der ertrank, während sie sich mit ihrem Geliebten vergnügte, und sie erzählt vom Verlust dieses Geliebten. Von „verwundeter Liebe“ spricht der Dramaturg Wolfgang Behrens im Programmheft. Diese Verwundungen mündeten einst in einen gescheiterten Suizidversuch. Diese aufgekratzte, überdrehte Frau in ihren eleganten, aber manchmal auch unpassend wirkenden Kostümen ist kaputt, und jetzt wissen wir auch, warum.
Tolles Schauspieler-Theater gibt es auch sonst. Unterschiedliche Charaktere werden ausgeformt bis in die kleinsten Nebenrollen: Paul Simon als blondierter, nichtsnutziger Schmarotzer und Hallodri Jascha ruft nicht nur bei Warja tief empfundene Abwehr-Reflexe hervor; Benjamin Krämer-Jensters dauerlächelnder Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik ist so kurz und dick wie sein Name lang ist, und mit seinem pelzenen Wagenrad auf dem Kopf wirkt er wie die Karikatur des untergehenden russischen Landadels. Seine wenigen Worte beschränken sich vor allem darauf, die verschwenderische Ranjewskaja anzupumpen. Maria Wördemann gibt Ljubows Ziehtochter Warja als echte Identifikationsfigur: Herzzerreißend leidet sie, als der handfeste, nicht unsympathische Businessman Lopachin ihr (ungewöhnlich deutlich) den Heiratsantrag verweigert.
Warja wäre die Einzige, die zumindest theoretisch über das Potenzial verfügen würde, diese Familie wieder auf Spur zu bringen und das Gut mit dem Kirschgarten zu retten. Doch das Anwesen geht unter. Vielleicht wird der einstige Leibeigene und heutige Selfmade Man Lopachin ja wirklich seine Sommerhäuser darauf bauen. Der Kirschgarten wird abgeholzt, und das Herrenhaus ist längst ein Lost Place, so wie die Familie eine Lost Family und der Landadel eine untergehende gesellschaftliche Klasse ist. Tschechow hat das nicht bedauert, wie manche ihm unterstellen, sondern er hat es karikiert. Die Stühle krachen zusammen, im Schrank hausen Gespenster, und die Sommergäste werden eine ideale Location für morbide Instagram-Posts vorfinden.