Anne Lepper erhält Mülheimer Dramatikerpreis 2017

Selten erschien es so offen, welcher Autorin oder welchem Autor die Jury in diesem Jahr den mit € 15.000,- dotierten Mülheimer Dramatikerpreis zusprechen würde. Es schien ein eher schwacher Jahrgang gewesen zu sein, in dem keines der vorgestellten Stücke gleichermaßen im Hinblick auf seinen literarischen Wert und im Hinblick auf die Qualität der Inszenierung überzeugte. Qualitativ hochwertig war dagegen die Jury-Diskussion, in der man sich nach eineinhalb Stunden überraschend schnell auf die im Jahre 1978 geborene Anne Lepper als Preisträgerin einigte. Die Jury beschrieb ihr Stück Mädchen in Not als eine so komische wie abgründige Dystopie und würdigte die Vielschichtigkeit und Formstärke des Textes, der der reduzierten Struktur eines Märchens folge und dabei große Assoziationsräume und unzählige Möglichkeiten der Umsetzung eröffne. Claudia Bauer zeigte sich beeindruckt, wie die Autorin neue und alte Märchen und Mythen zitiert und in eine neue gleichermaßen komische wie unheimliche Märchengeschichte überführt; Marion Hirte lobte die Spannbreite des Texts, der von comicartigen Szenen und Textbausteinen bis hin zu politischen Bezügen reiche. Kathrin Röggla hob zudem die „schöne Inszenierung“ des Stückes durch Dominic Friedel vom Nationaltheater Mannheim hervor. Am Ende sprachen sich vier von fünf Jury-Mitgliedern für Anne Lepper als Preisträgerin aus; Wolfgang Kralicek votierte für Elfriede Jelinek, deren wortgewaltiges Stück „Wut“ in der Uraufführungs-Inszenierung von Nicolas Stemann von den Münchner Kammerspielen gezeigt wurde.

Beim Mülheimer Publikum zählte „Mädchen in Not“ nicht zu den Favoriten. Leppers mit Literatur- und Philosophie-Zitaten überfrachtetes anspruchsvolles Stück, das am Ende sechzehn Autorinnen und Autoren als Zitatgeber auflistet und zusätzlich Ideen aus Filmen und Comics aufgreift, gerät leicht zur Überforderung. Der Publikumspreis ging daher an Konstantin Küspert für seinen unterhaltsam inszenierten und in seiner Struktur erheblich besser durchschaubaren Text europa verteidigen, der in der Inszenierung von Cilli Drexel vom ETA Hoffmann Theater Bamberg gezeigt wurde. Küspert hält in seinem Text ein nachdrückliches Plädoyer für eine Fortsetzung der europäischen Utopie und des europäischen Einigungsprozesses und warnt vor einem Rückfall in nationalstaatliches Denken. Erfreulicherweise tut er dies – von wenigen Textstellen abgesehen – nicht mit missionarischem Eifer, sondern mit Humor und Optimismus. Theater:pur Autor Dietmar Zimmermann ist überzeugt, dass in Küsperts Text erheblich mehr Potential liegt als in der ein wenig läppisch-clownesken Inszenierung, die in Mülheim gezeigt wurde. Auf den Plätzen landeten beim Publikumspreis Milo Rau und das International Institute of Political Murder mit Empire sowie Elfriede Jelinek mit Wut.

theater:pur hat über alle sieben Mülheimer Aufführungen in Einzel-Rezensionen berichtet. (Die Rezensionen zu Küsperts Publikums-Sieger „europa verteidigen“, das am Abend der Jury-Diskussion gezeigt wurde, sowie zu Jelineks „Wut“ und Milo Raus „Empire“ erscheinen in Kürze.) Darüber hinaus werden wir in wenigen Tagen einen ausführlichen Rückblick auf die Mülheimer „Stücke“-Tage und die Jury-Diskussion werfen.

Die Preisverleihung für Lepper und Küspert soll im Rahmen einer feierlichen Matinee am 18. Juni 2017 stattfinden. Gemeinsam mit ihnen wird Tina Müller geehrt, die für ihr Stück "Dickhäuter", uraufgeführt vom Theater Fallalpha Zürich, den mit 10.000 Euro dotierten Mülheimer KinderStückePreis 2017 erhält.

theater:pur freut sich mit allen Preisträgern und gratuliert herzlich.

Dietmar Zimmermann und Andreas Rehnolt