Übrigens …

Drei Fragen an... Dietmar Zimmermann

Dietmar Zimmermann ist Jahrgang 1954. Zweieinhalb Monate nach seiner Geburt elektrisierte sein Namensvetter Herbert die Republik: „Deutschland ist Weltmeister!“ Und so wurde Dietmar Zimmermann Fußball-Fan; noch heute fiebert er - alle Fans von Herne-West mal weghören - Woche für Woche am TV mit Borussia Dortmund mit.

Aufgewachsen in Kamen und schon zur Schulzeit literarisch interessiert, hielten ihn seine Eltern - beide Lehrer und überzeugte Germanisten - mit Gewalt vom Lehrer-Studium ab. Einer Bankausbildung in Unna, mit großem Enthusiasmus absolviert, folgte ein eher missmutig heruntergerissenes Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster. Das Interesse zur Literatur mutierte zur Liebe zum Schauspiel, als er die Inszenierungen von Peter Zadek am Schauspielhaus Bochum kennenlernte, doch widerstand er der Versuchung, mitten im BWL-Studium auf Theaterwissenschaften umzusatteln.

Bei einer großen Bank in Düsseldorf begann der junge Diplom-Kaufmann unter anderem als Ghost Writer eines Bereichsleiters und Vorstandsmitglieds. Es folgten 23 Jahre in verschiedenen leitenden Funktionen im Personalbereich mit einem Schwerpunkt auf dem europäischen Ausland. Bereits während seiner Tätigkeit bei der Bank startete Dietmar Zimmermann einen kleinen Blog mit Theater-Empfehlungen. Dadurch sowie durch eine Volunteer-Tätigkeit für die Europäische Kulturhauptstadt RUHR.2010 wurde theater:pur (damals als Print-Medium von Rolf Finkelmeier herausgegeben) auf ihn aufmerksam und nahm ihn in die Riege der Autoren dieser Zeitschrift auf.

Noch heute schreibt Dietmar Zimmermann für theater:pur; er führt seinen Blog theatermail nrw weiter, freut sich auf gelegentliche Gastbeiträge für die Rheinische Post, verantwortet das Veranstaltungsmanagement für die diskussions- und reisefreudigen Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses und ist Mitglied der Kritiker-Jurys der Zeitschrift kultur.west und des Schauspiels Dortmund.

 

 

Was bedeutet für Sie persönlich Theater?

Theater ist wie Fußball - mit beidem kann man die Welt erklären.“ Das war das Thema einer (versucht) aufrüttelnden Rede, die ich bei meinem Abschied von einer dem Untergang entgegentaumelnden Bank gehalten habe. Beide verlangen, wenn sie erfolgreich sein wollen, Teamwork, das Zurückstellen egoistischer Einzelinteressen. Beide können ihr Publikum elektrisieren. Bei beiden überträgt sich im Idealfall die Energie von den Performern auf das Publikum und von den Rängen auf Bühne und Spielfeld. Beide können entsetzlich langweilen. Und bei beiden weiß man vorher nicht, wie’s ausgeht: Weil’s live ist, kann auch eine gestern noch herausragend gelungene Performance morgen misslingen. Und die gestern noch dilettierende Mannschaft morgen mitreißen.

Theater ist wie Fußball - mit beidem kann man die Welt erklären? Beim Fußball versteht man das leichter, das Theater erfordert mehr Mitdenken. Aber beide dürfen sich nicht auf Erreichtem ausruhen. Sie müssen sensibel sein für neue Entwicklungen - beim Theater gilt das sowohl für gesellschaftspolitische als auch für ästhetische Entwicklungen. Denken Sie mal drüber nach: Beides gibt es beim Fußball auch. Die Kritiker-Kollegin Silvia Stammen hat einmal die Forderung an Zuschauer und Theatermacher erhoben, „Theater als Denkraum und nicht als verlängertes Fernsehprogramm (zu) begreifen“. Fußball darf man ungestraft auch als verlängertes Fernsehprogramm genießen - vom Theaterzuschauer ist anderes zu verlangen. Ivan Nagel hat Silvia Stammens Gedanken in brutalere Worte gefasst: „Wer ‚Werktreue‘ im Theater als Kampfparole benutzt…, meint damit meist, dass er Shakespeare, Schiller, Wagner genauso dumm haben will wie er selber ist.“ Nicht die Asche anzubeten, sondern das Feuer weiterzutragen - das ist es, was ich vom Theater erwarte. Und das heißt dann, den revolutionären, die Mächtigen provozierenden Schiller so auf die Bühne zu bringen, dass seine revolutionäre Kraft noch heute wirkt.

Aber selbstverständlich darf das Theater dabei sein Publikum nicht verlieren: Überflüssig sei „intellektuelle Kunst, die auf Sinnlichkeit verzichtet, und sinnliche Kunst, die auf Intellektualität verzichtet“, hat Jimmie Durham in seiner Dankesrede zur Verleihung des Kaiserrings der Stadt Goslar gesagt. Das übrigens gibt auch wieder für den Fußball. Pep Guardiola (mit einem mehr intellektuellen Fokus) und Jürgen Klopp (mit einer stärkeren Betonung der sinnlichen Komponente) seien meine Zeugen. Beide verbinden Intellektualität und Sinnlichkeit im Fußball aufs Feinste. Vielleicht ist ja Roger Vontobel der Jürgen Klopp des Theaters und Johan Simons der Pep Guardiola.

 

Was war für Sie der bisherige Höhepunkt auf der Bühne?

Ach, da gibt es so viele. Aber beginnen muss ich natürlich mit der Initialzündung für meine Theaterbegeisterung. Es war im Mai oder Juni 1976, als ich das Gastspiel von Peter Zadeks Hamburger „Othello“-Inszenierung am Schauspielhaus Bochum sah. Ich hatte noch wenig Theatererfahrung, verstand noch keine Inszenierungskonzepte, aber als der mit Schuhcreme beschmierte Ulrich Wildgruber die halbnackte Eva Mattes meuchelte und über die Wäscheleine hängte, da verstand ich, dass Theater etwas anderes sein kann als langweiliges Bürgertum. Dass es anarchische Kraft entwickeln kann. Wenige Wochen später sah ich Zadeks „Hamlet“ - und von Stund‘ an reiste ich durch die Republik, zu den Hamlets in Köln, in Bremen, zu Gastspielen aus London usw.

Im Winter 2005 fuhr ich nach München - mit dem einzigen Ziel, an den Kammerspielen Andreas Kriegenburgs legendäre sechsstündige „Nibelungen“-Inszenierung zu sehen. In den sechs Stunden hatte Kriegenburg so ziemlich alle Theater-Ästhetiken untergebracht, die meinem Beutemuster entsprachen - jede Szene war irgendwie neu, irgendwie kraftvoll. In der zweiten Pause rief ich meine Frau an. Ich konnte meine Glückshormone nicht mehr kontrollieren, wurde überschwemmt von einem Gefühl der Dankbarkeit, dass ich diesen Moment erleben durfte. Ich habe so etwas nur viermal in meinem Leben erlebt: bei der Hochzeit mit meiner Traumfrau, im Sonnenaufgang am Taj Mahal, bei der mehrtägigem Dauerregen folgenden Fahrt im klapprigen Golf durch die von der Abendsonne beschienene Quebrada de Humahuaca - und bei Andreas Kriegenburg.

Aus ganz anderen Gründen unvergesslich bleibt der Besuch von Guido Huonders Inszenierung von Taboris „Mein Kampf“ im Jahre 1988 am Schauspiel Dortmund. In der hinreißenden Groteske gibt es diese Szenen von Adolf Hitler Wiener Männer-Asyl. In der Pause der Dortmunder Aufführung hatte sich ein echter Obdachloser eingeschlichen und auf dem zufälligerweise frei gebliebenen Sitz neben mir Platz genommen, um Schutz vor der Kälte zu suchen. Als Hitler auf der Bühne herumzubölken begann, grunzte der Obdachlose einmal laut und verließ das Theater. Tabori hätte seine helle Freude gehabt und die Szene sofort in sein Stück eingebaut.

Im November vor zwei Jahren durfte ich als Reiseleiter eine kleine Zuschauergruppe aus der NRW-Landeshauptstadt zum Gastspiel des Düsseldorfer Schauspielhauses beim International Arts Festival in Shanghai begleiten. Robert Wilsons „Der Sandmann“ war ein Publikumsmagnet in NRW, doch in Shanghai lief in der Vorbereitungsphase so ziemlich alles schief, was nur schiefgehen kann. Zudem gab es das Gerücht, die Vorstellungen seien nur zu 30 Prozent ausverkauft. So schlimm kam es nicht, und wir spürten, wie Wilsons Inszenierung, die Hoffmanns alptraumhaftes Schauermärchen mit grandiosen Bildern in ein mitreißendes Rock Musical verwandelt, am ersten Abend die chinesischen Zuschauer nach und nach in den Bann schlug. Die zweite Vorstellung war dann bereits sehr gut verkauft, und als wir am dritten Abend statt im Theater in einem schönen Restaurant am Bund saßen, meldete sich die Kollegin von der Rheinischen Post aus dem „Grand Theater“: Die Tickets würden zum Schwarzmarktpreis gehandelt. Der Jubel an unserem Tisch war unbeschreiblich - in solchen Momenten wird auch der Kritiker zum bedingungslosen Fan.

 

Welchen Ort in NRW würden Sie Besuchern und Freunden gerne zeigen?

Da waren sie alle platt, meine ehemaligen Banker-Kollegen aus Frankfurt und Warschau, aus London und Madrid: Anlässlich unseres jährlichen privaten Alumni-Treffens hatte ich sie ins „Zentrum für Internationale Lichtkunst“ nach Unna geführt. Sowas im Ruhrgebiet, und dazu in einer unbekannten, unaufregenden Kleinstadt? Ja, meine Lieben, das ist die Metropole Ruhr: In der hintersten Ecke findet man ein Museum, wie es das kein zweites Mal gibt, mit Werken von Rebecca Horn und Olafur Eliasson, Christian Boltanski und Mischa Kuball, Bruce Nauman und Keith Sonnier und vielen anderen mehr. Viele dieser Künstler haben ihren eigenen Raum in den Katakomben der ehemaligen Linden-Brauerei, und sie bespielen ihn wie ein Theater: Lichtkunst ist immer auch Bühnenbild, und manchmal erzählt sie ganze Geschichten. So wie bei Robert Wilson - siehe oben.

Der Ruhrpöttler stellt sein Licht allzu sehr unter den Scheffel. Nach einer Publikumsdiskussion im Anschluss an eine Bürgerbühnen-Produktion in Duisburg sprachen Zuschauer und Darsteller über nichts anderes als über die Unattraktivität ihrer Heimatstadt. Widerspruchslos hatten sie den Blick von außen übernommen: Duisburg, das ist Armut und Hässlichkeit, das sind Clan-Kriminalität und No Go Areas, das ist Arbeitslosigkeit und Depression. Wer nur einen Tag für einen Besuch in NRW hat, den nehme ich gerne mit nach Duisburg. Dann wandern wir entlang der idyllischen Sechs-Seen-Platte und der Regattabahn, besuchen die herausragenden Museen Küppersmühle und Wilhelm Lehmbruck, klettern auf den alten Hochofen inmitten der renaturierten Industrieflächen im Landschaftspark Nord, buchen dortselbst einen Tauchgang im Tiefseetauchbecken im Gasometer, schlendern durch die wunderbar erhaltene alte Bergmanns-Siedlung Wehofen, machen eine Hafenrundfahrt durch den größten Binnenhafen der Welt und eines der führenden Logistikzentren in Europa - und wenn wir dann müde sind, entspannen wir uns in einer der vielen Kneipen oder Gaststätten im neu gestalteten Innenhafen. Wie war das - Sie haben nur 24 Stunden Zeit? Sorry, für Duisburg müssen Sie Ihren Urlaub wohl um ein paar Tage verlängern.

Was noch? Nun ja, die Museumsinsel Hombroich in Neuss nebst nahegelegener Langen Foundation mit dem phantastischen Museumsbau von Tadeo Ando und dem lässigen Künstler-Gelände auf der ehemaligen Raketenstation darf man nicht verpassen. Und wenn wir mit dem Fußball begonnen haben, sollten wir auch mit dem Fußball enden: Natürlich muss man, ob Fußball-Fan oder nicht, einmal im Leben die Gelbe Wand erlebt haben. Aber ob Sie’s glauben oder nicht: Das architektonische Juwel der Fußball-Bundesliga steht in Leverkusen. Es ist die im Jahre 2009 nach Plänen des Architektenbüros HPP Hentrich Petschnigg & Partner umgebaute BayArena.

 

Foto: privat

27. Juli 2020