Flüchtling im Theater Münster

Knallharte Realität

Es ist ein ernstes, ein sehr ernstes Thema, das da auf der Opernbühne angeschlagen wird: ausländische Mitmenschen geraten in die Mühlen der „ganz normalen“ bundesdeutschen Behörden, Menschen, die seit Jahren hier leben, aber lediglich „geduldet“ sind – und die von heute auf morgen einfach abgeschoben werden können und sollen. Zurück in ihre vermeintlich wieder sicher gewordene „Heimat“...

Lucio Gregorettis Oper Flüchtling taucht mitten hinein in die knallharte Realität unserer Gesellschaft, eine von der breiten Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommene Wirklichkeit. „Raus“, „Du bist hier nicht willkommen“, „Geh zurück“ tönt es zu Anfang lautstark durch das Kleine Haus des Theaters in Münster, in dem Gregorettis Flüchtling seine deutschsprachige Erstaufführung erlebt. Ein Stück voller anrührender, ja ergreifender Momente. Es ist das jüngste Projekt des TheaterJugendOrchesters, das in Münster längst zur festen Größe innerhalb des Theater-Spielplans geworden ist.

TheaterJugendOrchester, oder griffiger: TJO? Kurz und knapp beschrieben: die Profis des Solistenensembles und Mitglieder des Sinfonieorchesters Münster bieten jungen Menschen zwischen 12 und 17, 18 Jahren die einzigartige Möglichkeit, eine komplette Musiktheater-Produktion von Anfang bis Ende zu gestalten, aktiv daran teilzunehmen, dabei den „ganz normalen“ Arbeitsalltag von Sängerinnen und Sängern, von Orchestermusikerinnen und –musikern sehr genau kennen zu lernen und ganz persönlich mitzumachen, ihn hautnah zu erfahren. Das ist enorm viel Arbeit und kostet einen guten Teil der Oster-Schulferien! Vor dreizehn Jahren fiel der Startschuss zum ersten TJO-Projekt in Münster, seitdem wird es in schöner Regelmäßigkeit Spielzeit für Spielzeit neu mit Leben erfüllt. Ein erfolgreiches Modell, das inzwischen sowohl vom Staatstheater Kassel als auch vom Gelsenkirchener Musiktheater im Revier „kopiert“ und ebenso erfolgreich durchgeführt wird. Die Münsteraner verdienen hier den Stempel „Das Original“.

So politisch und so dicht dran an existenziellen menschlichen Schicksalen wie jetzt in Flüchtling war das münstersche TJO seit Jahren nicht mehr. Es geht um das Mädchen Djamila, die auf der Flucht aus Syrien ihre gesamte Familie verloren hat und völlig allein irgendwo in Deutschland gestrandet ist. Hier trifft sie auf die in etwa gleichaltrige Noémie und deren Mutter Juliette, selbst Flüchtlinge, die vor zwölf Jahren aus dem von Krieg und Verfolgung geprägten Kosovo in das vermeintliche „Paradies“ oder „Schlaraffenland“ im friedlichen Westen gekommen waren. Noémie und Juliette verstecken Djamila vor der Polizei, geraten deshalb in die Klauen der Justiz, bekommen die Macht eines Bürokraten zu spüren, der sie ohnehin schon alle zwei Wochen „routinemäßig“ vor seinen Schreibtisch ins Ausländeramt zitiert und sie schließlich allesamt davonschickt: dorthin „wo sie hingehören“. Das ist bittere Realität, auch anno 2013.

Um diese beiden Kosovo-Flüchtlinge Noémie und Juliette hat Lucio Gregoretti seine 2009 in Italien uraufgeführte Oper erweitert, hat neue Dialoge eingefügt, die dem Ganzen eine schlüssige und zwingende Dramaturgie geben. Regisseur Jakob Seidl macht daraus neunzig Minuten Bühnengeschehen, das unter die Haut geht. Weil man buchstäblich mitleidet und mithofft. Mit Noémie, in der Schule als Streberin abgestempelt und gemobbt; mit Mutter Juliette, die gern wieder als Pädagogin arbeiten würde; auch mit Maxime, dem sympathischen Physiklehrer, der sich in Juliette verliebt hat. Erst recht mit Djamila, spürbar traumatisiert von ihren Erlebnissen auf der Flucht aus Syrien, bei der sie Augenzeugin des Todes ihres Vaters wurde.

Natürlich findet Lucio Gregorettis Stück ein gutes Ende: nach massivem öffentlichem Druck lenkt die Behörde ein, statt Abschiebung gibt es eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Doch bis es so weit ist, haben alle – das Publikum, aber vor allem auch die Jugendlichen im Orchester, im Chor und jene mit solistischen Aufgaben – eine ganze Menge davon mitbekommen, was es heißt, ein Flüchtling zu sein!

Ganz ausgezeichnet wird gesungen und gespielt. Da ist das TheaterJugendOrchester, einstudiert von Thorsten Schmid-Kapfenburg (Zweiter Kapellmeister am Theater Münster). Es bringt Gregorettis durchaus anspruchsvolle, sehr farbig angelegte Partitur zum Leuchten, umschifft grandios deren rhythmische Klippen, ist ganz konzentriert und wachsam mit dabei. Naomi Schicht schlüpft in die Rolle der „illegalen“ Djamila, die Rolle der Freundin Noémie übernimmt Johanne Pfeiffer; Louisa Roddey, Vera Lorenz und Til Ormeloh sind die echt coolen Freunde aus der Clique. Was da an Bühnenpräsenz erfahrbar wird, an Ausstrahlung und Glaubwürdigkeit, ist schlichtweg umwerfend und mindestens ebenso professionell wie die Partien der Profis Larissa Neudert (als Juliette), Christian-Kai Sander (als Lehrer Maxime) und Juan Fernando Gutiérrez (in der Doppelrolle als Schuldirektor und Beamter der Ausländerbehörde). Der Kinderchor der Westfälischen Schule für Musik (Einstudierung Rita Stork-Herbst) ist stimmlich gut drauf und beweist wunderbares schauspielerisches Talent.

Nach der umjubelten Premiere (Komponist Lucio Gregoretti zeigt sich höchst zufrieden) kommt nun wie in jedem Jahr der ganz gewöhnliche Alltag auf die Macher des TJO zu: die Repertoire-Vorstellungen bis zum Ende der laufenden Spielzeit. Auch das gehört von Anfang an zum Konzept des TJO!