Übrigens …

Manon im Theater Krefeld

Changierendes Zeitbild

Die französische Oper ist am Theater Krefeld/Mönchengladbach nicht gerade ein Schwerpunkt. Was Jules Massenet betrifft, so stand vor einem Jahrzehnt immerhin Werther auf dem Spielplan. Manon soll hingegen eine lokale Erstaufführung sein. Dieses eigentlich kaum glaubhafte Faktum wurde von der Dramaturgin Ulrike Aistleitner im Einführungsvortrag erwähnt. Bei dieser Gelegenheit gab es auch den Hinweis, dass man bei der Repertoiregestaltung Wert darauf legt, die spezifischen Möglichkeiten und Qualitäten des Ensembles zu nutzen. Bei dem Liebespaar von Manon gelang dies jetzt besonders glücklich. Sophie Witte (Manon) und Michael Siemon (Des Grieux) fanden sich am Schluss vom Begeisterungsbeifall des Publikums geradezu überschwemmt.

Sophie Witte ist eine bis in extreme Spitzentöne hinein ausdrucksstark intonierende Sängerin, bietet feine dynamische Valeurs. Ihre Darstellung steigert sich bis zum 5. Akt, wo sie die Hinfälligkeit eines ausgezehrten Körpers geradezu bohrend vermittelt. Michael Siemon besitzt die Ausstrahlung eines - wie man zu sagen pflegt - feschen Kerls, mit liebevoller Männlichkeit, mitunter emotionalem Überschwang und tenoralem Elan. Dass Phrasen von „Ah fuyez douce image“ und auch einige im Finale lyrisch noch etwas geschmeidiger vorzustellen sind, sei nur als Hinweis, nicht als Einschränkung des außerordentlich sympathischen Rollenporträts verstanden.

Wo schon mit den Sängern begonnen wurde …Rafael Bruck gibt einen markanten, virilen Lescaut, Andrew Nolen einen dandyhaften Brétigny, in der dekadenten Kontur noch um Einiges überboten von Walter Planté (Marfontaine). Bemerkenswert, auf welchem Niveau sich der einstige Ferrando, Alfredo und Hoffmann als Charaktersänger hält und stets eine plastische Bühnenfigur abgibt. Auch Debra Hays (Poussette), langjährige Ensemble-Sopranistin, sollte für ihre nicht nachlassende Stimmfrische und szenische Präsenz mit ausdrücklichem Lob bedacht werden. Ihre Gespielinnen Javotte und Rosette sind mit Gabriela Kuhn und - aus dem offenbar sehr effektiv arbeitenden Opernstudio Niederrhein - Charlotte Reese besetzt. Dem Grafen Des Grieux verleiht Matthias Wippich autoritatives Gewicht. Auf der vokalen Seite gilt es auch den Chor nachdrücklich zu erwähnen, der bei Maria Benyumova wirklich in besten Händen scheint. Seine exzellente Leistung bei Wagners Rienzi haftet immer noch im Ohr. Bei der Manon-Premiere wirkte der orchestrale Einstieg unter Mihkel Kütson noch etwas robust, doch lichtete sich der Klang schon bald. Im Gegensatz zu Giacomo Puccinis melos-gesättigter Kompositionsweise bei Manon Lescaut bevorzugt Massenet eine sehr ziselierte Musiksprache, und die kam in Krefeld zuletzt sehr überzeugend und sensibel zum Tragen.

Die Puccini-Veroperung von Abbé Pévosts Erzählung geht im Vergleich zu Massenet nicht nur musikalisch eigene Wege, sondern auch inhaltlich. Das Massenet-Finale bildet bei Puccini den Beginn des 3. Aktes, welcher mit der Deportation „gefallener“ Frauen und dem Tod der Titelheldin in einer Wüste (Finalbild) seine Fortsetzung findet. Massenet wiederum ließ seiner Manon mit dem Einakter Le Portait de Manon einen heiter lächelnden Epilog folgen.

Die Krefelder Manon präsentiert sich in einem historischen Ambiente, besonders prägend bei den Kostümen (Karine Van Hercke). Solch treue Orientierung an der Zeitvorgabe des Librettos muss man erst einmal „verkraften“, ist moderne Kleidung doch inzwischen zu einer nachgerade versklavenden Norm und zu einem fast zwanghaften Nachweis für intellektuelle Werkdeutung geworden. Krefelds Aufführung beweist, dass ein historischer Rahmen individuellen Inszenierungsakzenten keineswegs abträglich, sondern diesen unter Umständen sogar förderlich ist.

Bei Francois De Carpentries hält sich dieser Effekt freilich in Grenzen, und mit Lucia und vor allem Don Carlo hat der Regisseur vor Ort nun wirklich nicht viel Ehre eingelegt. Aber diesmal harmonieren Werk und Deutung. Die historische Sicht wirkt im übrigen ein wenig gebrochen. Manon tritt zu Beginn in einem jetztzeitlichem Outfit vor den Vorhang, ein Geschöpf der Gegenwart, welches sich nach und nach in eine (mit historischem Dekor verbrämte) Wunschwelt hinein träumt, welche an der bitteren Realität dann aber scheitert. Diese Regieidee hätte sich zwar auch anders bebildern lassen, doch die gewählte Lösung hat durchaus etwas für sich.

Ansonsten legt es die Regie auf pittoreske Bebilderung eines vergangenen Zeitalters an. Das Etikettenhafte, Förmliche, Artifizielle des menschlichen Umgangs schlägt sich nicht zuletzt in der Führung des Chores nieder. Da lässt sich zwar nicht immer verlässlich auseinander halten, was gezielter Bewegungsausdruck, was inszenatorische Konvention ist. In toto ergibt sich aber das farbige Abbild einer zurückliegenden Vergnügungswelt, mit affektierten Lebemännern (Brétigny, Marfontaine) und überkoketten Dämchen (Poussette, Javotte, Rosette). Recht gut zeichnet Carpentries nach, wie Manon von dieser Glitzerwelt nach anfänglichem Widerstand quasi aufgesogen wird. Besonders verdeutlichender Moment: bevor Manon dem neuen Werber Brétigny die Hand reicht, versetzt sie ihm eine Ohrfeige.

Sehr attraktiv wirkt die Raumgestaltung Siegfried E. Mayers. Seine beweglichen Wandelemente mit Säulenteilen und barocken Applikationen lassen sich immer neu kombinieren und erleichtern auch die Bildübergänge. In diesen Bewegungsfluss integrieren sich auch bestimmte Handlungsmomente. Wenn Des Grieux von Manon verraten und zusammengeschlagen wird, rollt man ihm auf seinem Bett einfach hinaus. Umgekehrt wird die entkräftete Manon im 5. Akt auf einem Bettlaken über den Boden herein geschleift und Des Grieux vor die Füße gelegt. Die jetzt gänzlich leere Bühne gehört nun ganz dem schmerzlichen Abschiednehmen des Liebespaares. Dass der Chor zum Schluss noch einmal als mahnendes Kollektiv auftritt und Geldscheine herab flattern, ist eine inszenatorisch zwar logische Zutat, aber vielleicht etwas zu viel des gut Gemeinten.