Übrigens …

Sneewitte im Dortmund, Oper

Märchenstunde mit viel Rap

Es war einmal… eine Königin, die gern in den Spiegel schaute. Der kommentierte immer gleichbleibend das Aussehen der eitlen Dame: Du bist die Schönste im ganzen Land! Doch eines Tages, die Stieftochter ist inzwischen zum flotten Teenie gereift, ändert der Spiegel seine Aussage. Die junge Prinzessin ist schöner als die ältere. Die Stiefmutter plant den Tod von Sneewitte, so der Titel des Musiktheater-Stücks von Sophie Kassies (Text) und Jens Joneleit (Musik). Zu erleben in der Jungen Oper Dortmund, ein kulturpolitisch wichtiger Ableger des Theaters. Grimm und Moderne, Drama und Jux, Beinahe-Mord und glückliches Ende – verträgt sich das alles für ein heutiges Publikum ab sieben Jahre? Weitgehend: ja. Wenn auch einige der ironischen und doppelbödigen Aspekte des Stoffes und seiner Inszenierung durch Antje Siebers mit einem Fragezeichen verbunden sein dürften.

Das Schneewittchen-Thema folgt meist der Vorlage der Märchenforscher. Freuten sich noch Mutter und Vater riesig über den Mädchennachwuchs, der so oft in der Wiege schreit, so ändert sich das Verhältnis, als die Königin die „Konkurrenz“ am eigenen Hofe fürchtet: aus Schneewittchen ist bei der niederländischen Librettistin Sneewitte und damit ein selbstbewusstes, flottes, hübsches Girl geworden. Zum Glück schlüpft es bei den sieben Zwergen in einer Höhle (im Siebengebirge?) unter und überlebt den geplanten Anschlag auf ihr Leben. Sie beißt jedoch in den Apfel, ein Stück bleibt im Hals stecken – doch beim Transport ihrer Bahre kann sie es ausspucken. Sie lebt also weiter. Und wie geht die beinahe böse und tragische Geschichte hier  aus? Das Autoren-Duo entzieht sich einer geänderten Fassung und macht just an dem entscheidenden Punkt Schluss: „bengalisches Feuer nach dem Abenteuer“ lautet daher die letzte Zeile. Das Ganze also: ein Diskussionsentwurf, ein Märchenkommentar, ein Versuchsballon. So könnte es gewesen sein, so könnte es beim „Abenteuer“ in der Familie, bei der Eifersucht, beim Streit der Eltern, beim Reifeprozess ausgegangen sein…

Was das Besondere dieses Projekts ist: die Musik. Und das Mit- und Erleben aller Figuren. Musiker sind Zwerge, der König ist zugleich ein Anti-Held – nur Mutter/Tochter bleiben in sich geschlossen jeweils ein Charakter, der sich jedoch mit der Zeit wandelt. Wie das so im „richtigen“ Leben auch gilt.

Joneleits Musik vertraut Geräuschen und Rap, Variationen von Hits, Melodiefetzen und knalligem Rhythmus-Pochen. Vier Köpfe – für Percussion, Keyboard, Bass und Posaune – genügen für ein kontrastreiches instrumentales Miteinander. Das Ganze ist jederzeit durchhörbar. Diese Leichtigkeit gepaart mit Transparenz ermuntert das Sängerinnen-Duo Engjellushe Duka (Sopran/Königin) und Hasti Molavian (Mezzo/Sneewitte) zu schönen, kühnen oder gar exzentrischen Ausflügen in das Reich der vokalen Farben. Zwei Schauspieler (Stefan Happel und Kai Bettermann) bringen sich mit viel Witz, Temperament und erzählerischem „Drive“ in die Übertragung des alten Märchens in die Gegenwart ein. Am Pult: der mitspielende Dirigent Michael Hönes, der die unterhaltende Klangraffinesse mit dem exzellenten Musiker-Quartett so akkurat wie souverän auslebt.

Antje Siebers lässt sich bei der Regie auf der schlichten, dennoch variablen Bühne (Ausstattung: Lisa Buchholz) viel „action“, sogar Schattenspiele, einfallen – aber sie geht nicht soweit, dass die Vorlage veralbert oder diffamiert wird. Es bleibt bei der munteren Diskussion über das Erwachsenwerden, über das Verhältnis von Mutter/Tochter oder auch von Vater/Tochter. So zielt die Aufführung ohne gewollt aufgetragenen Zeigefinger direkt mitten hinein in das die Generationen überschreitende Publikum. Es wurde bei der Premiere viel und sogar heftig gelacht – und zum Schluss des ohne Pause ablaufenden Stückes auch lange und lebhaft geklatscht. Darüber freute sich das gesamte Dortmunder Team.

Sneewitte sollte sich lange im Spielplan der „Jungen Oper“ halten. Es liefert ein brauchbares, praktisches Modell, Märchen und menschliche (Er-)kenntnis ins aktuelle Jugendtheater zu übertragen.