Zyklus oder nicht?
Puccinis Trittico wurde 1918 an der Met in seiner originalen Dreiteiligkeit uraufgeführt. Stofflich wirklich zwingend hängen die Stücke nicht zusammen, aber die Abfolge Krimidrama, lyrische Tragödie und Satyrspiel besitzt theatralisch-ästhetische Reize. Dass man Suor Angelica bei Aufführungen häufig unter den Tisch fallen lässt, liegt eher an dem etwas entlegenen Milieu der Story (welches Francis Poulenc bei Dialogues des Carmélites später stimmiger in den Griff bekam) sowie dem Qualitätsgefälle innerhalb der Oper. Der erste Teil, fast bis zum Auftritt der Fürstin, ist - drastisch ausgedrückt - banales Frauenpalaver, welches freilich etwas von der freudlosen klösterlichen Abgeschiedenheit vermittelt und das Leid ahnen lässt, welchem die Nonnen (vielfach in dieses Leben gezwungen wie Angelica) ausgesetzt sind. Dieses „Loch“ vermag auch die Aachener Neuproduktion nicht auszufüllen. Einige geglückte Aufführungen hat es freilich schon gegeben; der Rezensent erinnert sich beispielsweise an die Dortmunder Abschieds-Inszenierung von Christine Mielitz (2010), wo eine leuchtende Bildästhetik über die Defizite der Oper hinweg half.
Natürlich sucht Regisseur Mario Corradi (welcher vor Ort zuletzt den Tannhäuser sehr plausibel erarbeitete) nach Verbindungslinien zwischen den drei „Zyklus“-Teilen. Die ziemlich nüchternen Bühnenbilder von Italo Grassi zeigen eine „abstrakte Struktur, die an ein gebrochenes Kettenglied erinnert“, so Corradi. sich auf eine Äußerung Micheles in Tabarro berufend („Teile diese Kette mit mir“). Diese Idee leuchtet nur bedingt ein. Sinnfälliger wirken die Kindvariationen bei den Opern. In Suor Angelica tritt das verstorbene Söhnchen höchstpersönlich in Erscheinung, als imaginative Trostfigur, welche die Mutter zuletzt in ein lichtvolles Paradies geleitet. Die dunkle Hautfarbe des Kindes lässt den einstigen „Sündenfall“ Angelicas sogar besonders gravierend und damit ihre Ausstoßung aus der Familie (gezeigt als stumme Introduktionsszene) besonders nachvollziehbar erscheinen. Ein „Vorspiel“ auch im Tabarro, welches die von Michele und Giorgetta betrauerte Kinderlosigkeit reichlich krass motiviert. Giorgetta nämlich erstickt ihr Baby im Affekt, als es mit seinem Schreien nicht aufhören will. Besonders trefflich wirkt Corradis Idee im Schicchi, die vorzeitig schwangere Lauretta den völlig überraschten Vater mit dem Ungeborenen zu seiner Schelmentat zu erpressen, damit das Kleine in legalen Verhältnissen zur Welt kommt.
Die Geschehnisse des Trittico liegen gemäß Libretto um je drei Jahrhunderte auseinander. Corradi verknappt sie auf Jahrzehnte, warum auch immer. Bei Schicchi wirkt das freilich insofern logisch, als Simone des Titel eines Podestà inne hat, ein Amt, welches nur die Epoche von Dante (aus dieser stammt der Opernstoff) kannte sowie die Zeit des italienischen Faschismus kennt. Also hängt über dem Bett des gestisch aufwändig abkratzenden Buoso Donati ein Porträtbild Mussolinis. Und wenn in neuerer Zeit das Abhacken einer Hand und die Verbannung für Testamentfälschung noch gelten könnte, dann wohl am ehesten unter diesem brutalen Regime.
Mario Corradis inszenatorische Sinnfälligkeit bei Suor Angelica wurde bereits erwähnt. Den Tabarro erzählt der Regisseur mit düsterem Fingerzeig. Indem er praktisch jeder Figur seine eigene Weltsicht einräumt, sein eigenes Glücksziel zugesteht, wird die Tragik des Dreierverhältnisses intensiviert. Schicchi wird bei Corradi zu einer aufgepeitschten Komödie. Welche Aufführung würde sich das aber auch entgehen lassen? Die Konturenschärfe kann allerdings differieren. Die letzte NRW-Inszenierung (September in Mönchengladbach, Regie: Francois de Carpentries) wirkte beispielsweise um noch einige Grade grotesker. Doch auch in Aachen wird man auf das Launigste unterhalten. Ein Gag bekommt sogar Szenenapplaus. Wenn dem Titelheld ein Licht aufgeht, wie er den Donatis aus dem Erbschlamassel helfen kann (im Wesentlichen zu seinen eigenen Gunsten), senkt sich eine nackte Glühbirne vom Schnürboden herab und wird angeknipst.
Trotz Einschränkungen im Detail ist von einem außerordentlich geglückten Abend zu sprechen, welchem das Aachener Publikum denn auch tosenden Beifall spendet. Angesichts des riesigen Sängerpersonals muss bei der Namensnennung Zurückhaltung geübt werden. Etliche Partien sind ohnehin aus dem Chor besetzt, wobei Kim Savelsbergh als Ciesca mit fulminanter Präsenz auffällt. Das sollte denn doch nicht verschwiegen sein.
Es gibt teilweise Mehrfachbesetzungen, wobei Sanja Radisic (in allen drei Opern tätig) in der Premiere überhaupt nicht mitwirkte. In zwei Partien erlebte man dafür Leila Pfister, vokal einwandfrei und als blaustrümpfige, vertrocknet wirkende Zita eine veritable Komödiantin. Die Angelica-Fürstin gab für diesmal Marion Eckstein, bislang mehr im Konzertbereich tätig. Doch was für eine Bühnenpersönlichkeit! Ihre unbeugsam damenhafte Attitüde und ihr autoritativer Gesang machen regelrecht frieren. Und welche Bassgewalt steckt in Woong-Jo Choi, welche beim Michele gegenüber früheren Rollen um noch einige Grade gesteigert erscheint. Linda Ballova lässt die Liebesleidenschaft von Giorgetta mit ihrem expressiven Sopran hoch aufflammen. Irina Popova wird einen anderen Typ abgeben. Die Angelica liegt ihr (trotz hochdramatischer Ausflüge zu Senta, Tosca, Lady Macbeth u.a.) aber wohl noch mehr - jedenfalls war sie (mit perfekten hohen C‘s) selten so gut wie an diesem Abend.
Wesentlich überzeugender als zuletzt in der Partie des Malcolm (Macbeth) wirkt Alexey Sayapin in den Partien des Luigi und Rinuccio; ein leidenschaftlicher Tenorliebhaber mit viel Charme. An seiner Seite die schönstimmige Suzanne Jerosme als Lauretta (mit ihrem beifallsträchtigen Arien-Ohrwurm). In Schicchi werden alle Sänger zu aufgekratzten Schauspielern. Hier wenigstens eine pauschale Aufzählung der noch nicht genannten Mitwirkenden: Katharina Hagopian (Nella), Patricio Arroyo (Gherardo), Michael Terada (Marco), Vasilis Tsanaktsidis (Betto) und Jorge Escobar (Simone). Die Titelpartie gibt Enrico Marabelli nicht schwergewichtig proletarisch, sondern leichtfüßig und elegant, aber baritonal kernig. Kazem Abdullah am Pult des Sinfonieorchesters Aachen versteht sich auf die spezifischen Farben der so heterogenen Werke.