Eins, zwei, drei – vorbei!
Mélisande ist eine heimatlose Society-Ruine. Ihr einziger Besitz sind das Designer-Handtäschchen mit dem teuren Lippenstift, den sie immer und überall benutzt, sogar während des Abendessens. Pelléas sieht aus wie Julian Sands in Zimmer mit Aussicht, ein blasierter Beau mit selbstverständlicher Eleganz und schulterlangem, weißblonden Haar, ein willenloses Stück Fleisch gewordener Dekadenz. Golaud schließlich hat einen langen, schwarzen Vollbart. Seine Augen glühen so wie die der Bösewichte in Karl Mays Orient – Zyklus. Er kleidet sich teuer und elegant und blutet ständig an der Stirn, läuft vielleicht gegen Wände oder schlägt sich Flaschen drauf. Alle drei denken beständig an sich, ihr eigenes Leid, ihre Wünsche, ihre Selbstverwirklichung. Sie leiden vor sich hin an den Verhältnissen, in die sie geboren oder geworfen sind. Aber ihre Auflehnung besteht nur im Trinken und Rauchen. Am Ende sind zwei von ihnen tot. Wir werden sie nicht vermissen.
Diese ausführliche Figurenbeschreibung stehen am Anfang dieses Textes, weil sie den Kern und das Wesen der Pelléas et Mélisande – Inszenierung von Krzysztof Warlikowski ist. Mehr gibt es kaum in der Bochumer Jahrhunderthalle zur Eröffnung von Johan Simons dritter und letzter Ruhrtriennale. Und das es das gibt, verdanken wir in erster Linie drei herausragenden Sängern. Der sehr dynamisch singende Phillip Addis als Pelléas und der mit eher kleiner Stimme begabte, aber hochexpressiv gestaltende und einen dazu erfundenen, unnötigen Prolog auf herausragendem schauspielerischem Niveau abliefernde Leigh Melrose als Golaud profilieren sich als herausragende Sängerdarsteller. Barbara Hannigan ist noch ein wenig mehr. Zweifelsfrei eine der ganz großen Sängerinnen unserer Zeit, geht sie darstellerisch auch an diesem Abend in beeindruckender Weise dahin, wo es weh tut – und wirkt doch ständig unterfordert. Denn Warlikowskis Protagonisten sind. Sie entwickeln sich nicht. Wir kennen sie bald und halten sie dann aus. Schon die Verhältnisse, die sie zu dem machen, was sie hier sein sollen, zu hoffnungslosen Narzissten, bleiben Behauptung in Malgorzata Szczesniaks klotzig getäfeltem Ambiente. Franz-Josef Selig als Arkel und Sara Mingardo als Genevieve zeigen sich als herausragende Sänger. Etwas zu spielen bekommen sie nicht. Dienstboten und Schlachtersknechte marschieren ein und aus, leisten nichts fürs dramatische Geschehen, stellen sich höchstens vor die Musik.
Die gestaltet Sylvain Cambreling aus der Ferne. Am hinteren Rand der Jahrhunderthalle, unter der edlen Videoleinwand, die oft das zeigt, was sonst viele Zuschauer nicht sehen könnten (wofür dann der Riesenraum?), sitzt das Orchester, umgeben von einer jugendstilig geschwungenen Treppe – ein Teil der Dekoration. Und doch der König des Abends. Der Akustik der Halle gehorchend liefern die Bochumer Symphoniker einen kompakten Klang. Aber wie lebendig der ist, wie flexibel! Wie schön einzelne Momente, Lichtflächen, Instrumnentenfarben herausfließen! Da lernt auch der, der das Stück vorher nicht kannte, was für ein Ausnahmestück Pelléas et Melisande ist, auf halbem Weg zwischen Wagner und der musikalischen Moderne, ein Monument der impressionistisch oszillierenden Richtungslosigkeit, des Fin-de Siècle, ein Tanz auf dem Vulkan – ohne konkreten Vulkan und mit ganz neuem, ichbezogenen Tanz.