Simon Boccanegra im Theater Hagen

Mafiöse Zustände

Das Auditorium des Theaters Hagen war relativ schwach besetzt. Ob das am Zeitungsbericht von einer Pressekonferenz zur Verdi-Oper herrührte, wie eine Pausenzuflüsterung suggerierte? Diese soll nämlich das Eingeständnis des Produktionsteams besonders hervorgehoben haben, dass es sich bei Simon Boccanegra um eine schwer kommensurable Oper handle. Aber bitte: in Hagen gibt man sich doch generell spielplanmutig, nicht zuletzt durch den Einsatz für zeitgenössische Werke. Und da sollte sich das fast immer als aufgeschlossen erlebte Publikum verweigert haben?

Die Rezension an dieser Stelle kann freilich kaum Aufmunterung geben. Sie wendet sich sogar ausdrücklich gegen den frohgemuten Beifall der Zuschauer, der sich mit Recht an die Sänger, zu wenig hingegen an den Dirigenten Joseph Trafton und – bis auf einen einzelnen Protestschrei – unverständlicherweise an die Inszenatoren richtete. Ob dieser Premiereneindruck wirklich ein verbindliches Fazit ist, könnte sich u.U. am 14. Oktober korrigieren. Dann nämlich wird erstmals eine „Stunde der Kritik“ mit einem opernprominenten Moderator und Regiebeteiligten geboten. Die Quintessenz wird sicher (warnend) auch nach Lübeck dringen, wo die Koproduktion in der nächsten Spielzeit herauskommt.

Obwohl das fundamentale theatralische Gespür Verdis keinem Zweifel unterliegt, ist doch nicht zu leugnen, dass seine frühen und mittleren Werke (Luisa Miller und vor allem Macbeth ausgenommen) heute sujetmäßig einigermaßen vergilbt wrken. Selbst noch bei Forza del destino hat man mit Handlung und Psychologie heftig zu kämpfen. Ab Don Carlos ist man mit der Verdi-Dramaturgie dann aber völlig d’accord.

 Wie nun mit Simon Boccanegra umgehen? Die Originalhandlung erzählt vom politischen und vor allem menschlichen Zwist zwischen Boccanegra und Fiesco im Genua des 14. Jahrhunderts. Diese Atmosphäre bleibt in Hagen durch die Surtitles auf (nun ja) störende Weise erhalten, denn die junge Regisseurin Magdalena Fuchsbergerwill partout etwas anderes erzählen. Sie sieht in den Männern der Oper eine Mafioso-Gesellschaft, total auf Macht fixiert und dabei die Rechte der Frau massiv unterdrückend. Allerdings wird in Hagen angedeutet, daß Amelia (alias Maria) eigene Initiativen zu verfolgen gewillt ist.

Das Libretto vermittelt etwas Anderes, was auch Fragen an die Ausstatterinnen (Monika Biegler, Kathrin Hegedüsch) notwendig macht, ob vier nüchterne Büroräume auf Drehbühne und moderne Kostüme dem Hagener Konzept wirklich aufhelfen. Vor allem verliert sich Fuchsberger in abstruser Personenführung. Die Sänger müssen beispielsweise ständig auf Sessel, Schreibtische und anderes Mobiliar klettern. Amelia ist mal lebendig, mal zusammengebrochen, mal (offenbar) tot auf der Bühne präsent. Ihre große Arie gleicht einer dämonischen Ulrica-Beschwörung. In Folge ist die Sängerin ausgiebig damit beschäftigt, schweres Mobiliar hin und her zu wuchten. Der Symbolwert ist vermutlich noch schwerer.

Der Schlussakt ist an den Anfang vorgezogen, was nur wenig bringt. Vor Boccanegras Begegnung mit seiner verloren geglaubten Tochter fällt der Pausenvorhang. Und diese Szene ist ein besonderer Tiefpunkt in der Inszenierung, müssen beide Sänger doch harmlos durch einen steif herum stehenden Chor tändeln. Dieser (top einstudiert von Wolfgang Müller-Salow) hat auch sonst meist nur stupide Auf- und Abtritte. Man wird beim Zusehen zunehmend aggressiv.

Veronika Haller ist den lyrischen Anforderungen der Amelia-Partie gewachsen (einige problematische Intonationen in der Höhe). Sie hat auch ein Schlusswort zu sprechen, komplementär zur verbalen Ouvertüre von Band. Es geht hier um Humanität. Hilfsbereitschaft und andere Wertbegriffe. Die Texte nehmen Bezug auf die (etwas sentimentale) Rede des zum Hitler aufgestiegenen kleinen Juden in dem Chaplin-Film „Der große Diktator“. In Hagen glaubt man fast einer Morgenandacht beizuwohnen; politischer Appell verweht.

Die beiden Koreaner Kwang-Keun Lee (Boccanegra) und Dong-Won Seo (Fiesco) sind beeindruckende vokale Persönlichkeiten, Xavier Moreno ein tenoral flammender Adorno. Dem intriganten Albiani gibt Kenneth Mattice überzeugende Kontur, Valentin Anikin (Pietro) überflügelt ihn vokal leicht.

Der Dirigent Joseph Trafton ist ein Glücksfall für das Theater Hagen. Bereits bei Janaceks Schlauem Füchslein fiel auf, wie stark er das Philharmonische Orchester zu musikalischem „Erzählen“ zu animieren versteht. Bei Boccanegra beeindruckt vor allem instrumentale Detailarbeit und zupackende Dramatik. Wie gesagt: ihm hätte stärkerer Beifall gelten dürfen.