Vergessen als geistige Entschlackung
Joey Blueglass wird in eine arme Familie hineingeboren. Ort und Zeit: London im 19. Jahrhundert, also im Viktorianischen Zeitalter. Er ist ein schlaues Kerlchen, das sich von allen Mitmenschen durch sein außergewöhnliches Gedächtnis unterscheidet. Er kann aber auch rein gar nichts vergessen und ist zudem ein Rechengenie. Die Prophezeiung seiner Mutter, aus ihm könne sogar ein Schalterbeamter werden, erfüllt sich nicht, verspielt ihn doch sein Onkel beim Poker an John Rivers, einen Gauner der ersten Klasse. Joey erhält eine gründliche „Ausbildung“ in allen Arten von Betrügereien. Später muss er sich allein durchschlagen, unter anderem tritt er in einem Kuriositätenkabinett auf.
Chris Wilson, Psychologe aus London, hat sich Zeit seines Lebens intensiv mit dem Erinnern und Vergessen beschäftigt: „Was uns als Individuum ausmacht, ist das, was bleibt…: unsere Erinnerungen, unser Charakter. Vergessen hingegen ist eine Befreiung von den Zwängen der Welt“. Vor zwanzig Jahren schon schrieb er Joey Blueglass. Daniel Minetti schuf eine dramatisierte Fassung des Werkes, die jetzt am Theater Krefeld als Studioproduktion zur Uraufführung kam.
Cornelius Gebert spielt den hochbegabten Außenseiter und berichtet uns an dem fast zwei Stunden langen Abend, wie Blueglass’ Lebensreise verlaufen ist. Wir erleben ihn – gekleidet in einen Gehrock aus Dickensscher Zeit – als charmanten Plauderer, der gerne Szenen aus seinem Leben nachspielt, zum Teil recht detailliert, und dabei die verschiedenen Personen imitiert und zuweilen karikiert. Das hat durchaus Unterhaltungswert, zieht sich aber auch manchmal in die Länge. Im zweiten Teil nach der Pause berichtet Joey anrührend, wie er sich in die Diebin Florence verliebt hat. Vielleicht fesselt sein Bericht auch hier mehr, weil er sich nicht ständig von Episode zu Episode hangelt. Das junge Glück währt nicht lang. Die beiden geraten einem Wettbetrüger der Oberliga in die Quere, was Florence das Leben kostet. Joey wird fälschlich des Mordes bezichtigt und hingerichtet. Aus dieser allerletzten Lebensminute geht ihm noch einmal alles durch den Kopf.
Ein insgesamt interessanter, unspektakulärer Abend. Bewunderung ist dem Schauspieler zu zollen, der einen Gedächtniskünstler spielt und dabei selbst eine enorme Erinnerungsleistung in dieser One-Man-Show vollbringen muss.