Vier Anatols gehen sich an die Unterwäsche
In ihrem ausführlichen Aufsatz im Programmheft zu Florian Fiedlers Inszenierung behauptet die Dramaturgin Anita Augustin, Arthur Schnitzler habe vor allem Soft-Pornos geschrieben. Da ist was dran, bedenkt man, in was für eine prüde Zeit der österreichische Mediziner und Literat seine Geschichten um die vielen „süßen Mädels“ und den unstillbaren sexuellen Appetit junger Männer aus der gehobenen Wiener Gesellschaft gesetzt hat. Richtigerweise stellt Augustin – damit wahrscheinlich stellvertretend für das Regie-Team – die Frage, warum Soft-Pornos von der vorletzten Jahrhundertwende wie der 1893 entstandene Anatol heute noch interessieren, und ihre Antwort lautet: „Weil jede Gesellschaft die Pornos hat, die sie verdient, und weil wir Schnitzler immer noch verdienen. Vielleicht mehr denn je.“
Könnte ja sein. Schnitzler zu lesen, macht jedenfalls Freude, schon aufgrund der schönen, eleganten Sprache, mit der er ein Sittenbild seiner Gesellschaft zeichnet, das in manchen Facetten überraschend aktuell ist, das erstaunliche Parallelen zur libidinösen Gesellschaft unserer Tage aufweist. Nur: Waren damals die Frauen ausschließlich Opfer der scheinheiligen Sex-Protze aus der Upper Class, so verschwimmen heute die Geschlechtergrenzen im fröhlichen Miteinander der körperlichen Liebe: Es vögelt munter jeder mit jedem, Männlein mit Weiblein, Männlein mit Männlein oder Weiblein mit Weiblein, und im Zuge fortschreitender Emanzipation des weiblichen Geschlechts ist noch lange nicht raus, welche der beiden Parteien die Initiative zu einer ordentlichen Fuck’n Roll Party ergreift.
Diesen Gedanken hat Florian Fiedler in seiner Inszenierung, die sich unter krasser Vorspiegelung falscher Tatsachen Anatol – Arthur Schnitzler anstelle von Anatol nach Arthur Schnitzler nennt, aufgegriffen. Vier Personen spielen einen Titelhelden; andere Schauspieler gibt es nicht. Paula Hans, Wiebke Mollenhauer, Torben Kessler und Christoph Pütthoff sind Anatol – zwei Herren und zwei Damen, und wenn es sein muss, spielen sie die anderen Figuren aus Schnitzlers Drama mit. Von Genderverwirrung kann da allerdings keine Rede sein, denn die Geschlechtergrenzen sind nicht verwischt, sondern vollkommen aufgehoben. - Leider hat sich Florian Fiedler aber auch sonst gedanklich an dem Aufsatz seiner Dramaturgin orientiert. Aus dem kann der brave kultivierte Bürger zwar eine Menge lernen, aber nur in einer Hinsicht: nämlich über die ausführlich beschriebene immer gleiche Abfolge der Sexualpraktiken in Mainstream-Pornos und die möglichen Abwechslungen im Rahmen von diversen Abnormitäten. Andere Aspekte muss man in Augustins Aufsatz mit der Lupe suchen. Das Team hatte offenbar großes Vergnügen daran, sich einmal ganz professionell und lustvoll mit dem cineastischen Schaffen der deutschen Porno-Künstler zu beschäftigen und sich daran zu erfreuen, dass Zuschauen beim Geschlechtsakt in diesem Falle einen kulturellen Schöpfungsakt nach sich zog.
Und dann hatte man plötzlich nicht mehr viel anderes im Kopf als Sex, was ja psychologisch nachzuvollziehen ist. Aber es fehlte der Mut, auf der Bühne richtig zur Sache zu gehen. Man suchte sich vier junge, ausgesprochen gut aussehende Darstellerinnen und Darsteller, die, wenn man denn schon einen Porno gucken wollte, sowohl optisch als auch von der schauspielerischen Leistung her zum Zungeschnalzen wären, und die dürfen sich dann gegenseitig nur an die fleischfarbene Unterwäsche gehen. Das tun sie ausgiebig, und der feinen Beobachtung eines Kritiker-Kollegen sei nach reiflicher Überlegung zugestimmt: Die Männer bei den Männern tun das wesentlich expliziter als die heterosexuellen Kombinationen. Dann wird auch so getan als ob: Das eigene Hologramm wird gevögelt, als ob es eine Lust wäre, und falls jemand von den Leserinnen und Lesern die ab dem 22. November 2013 am Schauspiel Frankfurt gespielte Aufführung sieht, wären wir dankbar für eine enumerative Statistik darüber, wie häufig die Männer die Hosen herunterlassen (bei den Frauen geschieht dies seltener); wir tippen auf etwa 50mal in 80 Minuten und warnen noch einmal vor falschen Hoffnungen: Zu sehen ist nix.
Vielleicht aber zu assoziieren? Damals bei Thalheimers Lulu ließen all die alten männlichen Knallchargen ebenfalls die Buxe runter, und zwar komplett inkl. Unterhose, und die hübsche Fritzi Haberlandt als Lulu behielt die Klamotten an. Damals begriffen wir: Die alten Männer verlieren halt jegliche Contenance, sobald sie eine knackige junge Nymphe sehen; nur die Nymphe bewahrt Haltung und Noblesse. Ach ja, Thalheimer – der inszeniert jetzt auch in Frankfurt und hat Ideen und Konzepte. Fiedler hatte dagegen eine einzige Idee – und zu einem Konzept hat‘s nicht gereicht. Natürlich: Schnitzler ist der literarische Zwilling des psychoanalytischen Freud. Aber so eindimensional ist die Freudsche Lehre nicht, dass sie sich in heruntergelassenen Hosen erschöpft. Dass sich Christoph Pütthoff nach einem hinter dem durchsichtigen Vorhang ausgeführten Befruchtungstanz die blonde Mähne seiner Sexualpartnerin als Trophäe um die Hüften hängt, ist eine ganz witzige, wohl Allgemeingültigkeit beanspruchende Metapher; dass man sich gegenseitig nicht ins Ohr, sondern aufs Geschlechtsteil flüstert, nervt nur. Permanentes chorisches Sprechen zielt wohl in die gleiche Richtung wie die Auflösung unterscheidbarer Identitäten, macht aber endgültig jede Chance zunichte, Reste der Melancholie, Poesie und Schönheit der Schnitzlerschen Sprache herauszuhören. Eine Handlung nachzuvollziehen, fällt in dieser Inszenierung schwer; eine Entwicklung von Figuren findet ebenso wenig statt wie eine Weiterentwicklung von Inszenierungs-Ideen.
Immerhin: Die Videos und Hologramme von Bernd Zander sind schön. Bei ihrem Einsatz gibt es auch atmosphärisch tolle Musik, und die stummen Bilder, zu denen sich die Schauspieler dann gruppieren, haben auch gefallen. Zarah Leander zum Schluss auch: „Es gibt im Leben nicht nur den einen…“ – Das war schön, und das passt zum Anatol. Aber es war zu wenig.
Was macht man nach solch einem Abend, der das erkennbar große Potential von Schauspielern und Produktions-Team so wenig nutzt? Gehen wir ins Städtchen und suchen uns Mädchen, wie Anatol es tun würde? Nee, dazu regte der vorgebliche Softporno nicht an. Vielleicht gehen wir essen; das Festspielhaus hat schließlich die beste Gastronomie der NRW-Theaterszene, und der Inder schräg gegenüber vom Schauspiel Frankfurt ist auch nicht schlecht. Wie schrieb der große Kollege Andreas Wilink einst in einer Filmkritik: Was ist schon Sex gegen den Kuss einer Sauce oder den Flirt mit einem Gratin!