Rotkäppchen und der fiese Fuchs
Die anderen bereiten sich noch auf ihren Auftritt vor, da fängt der Fuchs schon an. Der Fuchs ist nämlich nicht teamfähig. Er ist intrigant, und er ist eitel. Stolz zeigt er auf sein Kunstwerk: einen Baum. Den hat er ganz alleine gebaut. Aus Büchern. Danach erst sind die anderen auch so weit, um auftreten zu können.
Dieses Verhalten des Fuchses sollte den Bewohnern des Waldes eine Warnung sein. In den Vordergrund drängen will er sich, zum König des Waldes will er sich krönen. Dazu muss zunächst einmal der derzeitige Amtsinhaber, der Wolf, unschädlich gemacht werden. Wenn also der Fuchs eine staatsmännische (sprich: mit angelernter, wenig authentisch wirkender Polit-Rhetorik abgelieferte) Rede hält, in der er den Bewohnern des Waldes zusichert, sie beim Kampf gegen den Wolf zu unterstützen, sollten wir vorsichtig sein: Es könnte noch schlimmer kommen. Eine Zusicherung, Rotkäppchen vor dem Wolf zu schützen, ist das jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Das mutige Kind soll ruhig gefressen werden, denn dann, so ist das Kalkül des Fuchses, wird der Wolf vom Menschen getötet und er, der Fuchs, kann die Macht übernehmen. Und so verrät er das Rotkäppchen. Beim Bewerber um das höchste Amt im Walde ist es eben wie bei unseren Politikern auch: Man sollte stets darauf achten, was NICHT gesagt wird…
Maëlle Giovanetti-Metzger als Fuchs ist eine Show. Sie türülürt in höchsten Tonen vor sich hin, mit ganz viel -ü- und -l- und ab und zu ‘nem -ö- - Deutsch ist das nicht, sondern eine unverständliche Kunstsprache, die am Rande der Bühne von einer anderen Schauspielerin übersetzt wird. Welche Attitüde dahinter steht, welche Wichtigtuerei, welche Schmeichelei und welches Intrigantentum – nun, das transportiert Giovanetti-Metzger perfekt durch Intonation und tänzelnde Körpersprache. Sehr charmant verkauft sie sich – doch wenn die Mikrofone abgeschaltet sind, wenn sie glaubt, dass keiner mehr zuhört, dann wird ihre Stimme hässlich, ihre Mimik und Gestik abwertend, wegwerfend, manchmal fast vulgär. Ein feines Früchtchen ist dieser Fuchs – und da es sich um die intelligenteste Figur in dieser Erzählung handelt, wird er auch zur Hauptperson der Inszenierung. Maëlle Giovanetti-Metzger ist das sowieso – fast ebenso grandios wie den Fuchs verkörpert sie später die so sympathische wie burschikose, heftig berlinernde Großmutter.
Es gibt übrigens noch jemanden, dessen Sprache wir nicht verstehen: Der Wolf knurrt und blafft und grollt; als er vom Fuchs trickreich als Hund verkleidet wird, winselt und jault er auch schon mal, aber Deutsch kann auch er nicht. Es sind die beiden negativen Gestalten der Geschichte, die Rotkäppchen verbal nicht verstehen kann; die anderen Tiere des Waldes, die Rotkäppchen helfen wollen, können sich mit ihm in einer gemeinsamen Sprache verständigen. Der Martial Arts Tricker Besnik Selimaj als Wolf fasziniert die Kinder dennoch: als Leistungssportler und Bodybuilder. „Oh geil!“, ruft ein kleiner Junge bewundernd und erntet damit den größten Lacherfolg der Vorstellung, als der tief im Karton verborgene Selimaj mit einem akrobatischen Sprung wie Kai aus der Kiste zu seinem ersten Auftritt auf die Füße kommt. Er ist ein Muskelprotz, der turnt wie Hambüchen und die Muskeln spielen lässt wie der junge Schwarzenegger – wenn’s sein muss, auch im Takt zur Musik. Kampfsportarten sind ihm nicht fremd – eine der rasantesten Szenen ist die Überwältigung Rotkäppchens in einer hinreißenden Kampfchoreographie inklusive Zeitlupen-Elementen, in der Nora Pfahl ihre Tanzausbildung unter Beweis stellen kann.
Nora Pfahl gibt das Rotkäppchen kindlich-sympathisch, mit der selbstverständlichen Überzeugung, dass einem Mädchen wie ihm, das das Gute verkörpert, nichts passieren kann. Die anderen Tiere des Waldes, süße Vögelchen, Schmetterlinge, eine gutartige Natter, handpuppenartig geschlängelt von Julia Dillmann, ein Bär, dessen Auftauchen von einer unheimlich anmutenden Choreographie und Soundcollage begleitet wird, sowie ein veritabler Angsthase sind die Freunde Rotkäppchens. Mit der Eilmeldung im Förster-Fernsehen: „Der Wolf ist wieder da“ kehrt die Angst zurück in den Wald, doch mit seinem natürlichen Selbstvertrauen macht Rotkäppchen den Tieren Mut, und ausgerechnet der Angsthase fordert: „Wir müssen uns dem Wolf entgegenstellen!“
Mit ganz einfachen Mitteln, aber ungeheuer phantasievoll geht die Truppe von Christof Seeger-Zurmühlen die Inszenierung an. Die Handlung wird unterstützt von Choreographien, Liedern und Couplets, die bei der Großmutter auch mal Einschläge von Zille-Lyrik haben. An anderen Stellen erinnern sie auch mal an Brecht, wenn die Tiere allzu bereitwillig der List des Fuchses auf den Leim gehen („So ist die Hilfe schnell vergessen / und alle denken nur ans Fressen“). Die Musik von Bojan Vuletic, u. a. mit Schlagzeug, einer riesigen Trommel und einem Omnichord, schafft auch auf der auditiven Ebene eine ungewöhnliche und bezaubernde Atmosphäre. Ganz bewusst setzt die Inszenierung nicht nur Reize für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Die Texter haben keine Scheu, auch Worte und Formulierungen einzubauen, die die „Kinder ab 6“ noch nicht verstehen, die aber den Großen ironisch im Ohr klingen. Die Kinder verstehen’s dann auf die gleiche Weise wie wir den Fuchs verstehen: intuitiv. – Langer, rhythmischer Applaus.