Übrigens …

Ibsen: Gespenster im Düsseldorf, Forum Freies Theater

Aber so etwas tut man doch nicht!

„Aber so etwas tut man doch nicht!“, ruft Richter Brack. Ibsens Hedda Gabler hat sich gerade in die Schläfe geschossen. Markus Schäfer und Markus Wenzel, die schauspielenden Mitglieder des fünfköpfigen Theaterkollektivs Markus&Markus, lesen den Schluss des 4. Akts von Ibsens Drama. Sie lesen die Szene von Werthers Selbstmord: „So sey’s denn - Lotte! Lotte leb wohl!“ Sie lesen eine ziemlich eklige Sterbeszene aus Noah Gordons Medicus. Pantomimisch bewegen sie sich zu Isoldes Liebestod von Richard Wagner: „Süß in Düften mich verhauchen? In … des Welt-Atems wehendem All - ertrinken, versinken … höchste Lust!“ Höchste Lust haben die beiden Performer am Trash. Sie nehmen den Giftbecher, hängen sich auf und zitieren die schönsten Sterbeszenen der klassischen Literatur und Musik. Selbstmord-Szenen vor allem. Selbstmord? Aber so etwas tut man doch nicht!

Und Sterbehilfe? Wenigstens im Falle unheilbarer, unweigerlich zum Tode führender Krankheiten, die mit immer erbarmungsloseren Schmerzen verbunden sind? Nach wie vor darf in Deutschland weder Arzt noch Pfarrer noch Angehöriger den Giftbecher reichen oder die erlösende Injektion geben. So etwas tut man doch nicht! Der Sterbetourismus in die Schweiz oder in die Niederlande, in denen die Gesetze weniger restriktiv sind, nimmt seit Jahren zu. Dass Organisationen wie Dignitas in einer rechtlichen Grauzone mit dem halbwegs schmerzfreien Befördern todkranker Menschen ins Jenseits Geld verdienen, stößt erst recht auf moralische Bedenken: So etwas tut man doch nicht.

Die Hildesheimer Theatergruppe Markus&Markus steht seit Jahren für eine ganz eigene Form radikalen politischen Theaters, bei dem die Grenze zwischen Inszenierung und Realität vollständig aufgelöst wird. Ibsen: Gespenster ist ihr Stück über Sterbehilfe. Auf der Meta-Ebene kann man die Performance auch als eine Reflexion über den Umgang der Darstellenden Kunst mit dem Tod verstehen. Sie verletzt Tabus: Das Kollektiv hat die 81jährige Margot aus Düsseldorf im letzten Monat ihres Lebens begleitet und ist mit ihr nach Basel zum Sterben gefahren. Noch ihr Tod ist filmisch dokumentiert und wird in der Theateraufführung gezeigt. Aber so etwas tut man doch nicht!

Oder doch? Letztlich thematisieren Markus&Markus die Frage, ob zu einem selbstbestimmten Leben auch ein selbstbestimmter Tod gehört. Partei nehmen sie nicht, aber wer nach diesem Abend noch mit ideologischem Furor gegen die Sterbehilfe-Befürworter wettert, lässt jeden Respekt für die heimliche Protagonistin vermissen. Margot sei „überragend gecastet“, kommentierte mein 21jähriger Sohn nach der Aufführung, und er traf mit dieser Bemerkung die ganze Doppelbödigkeit des Unterfangens. Die coole Bemerkung trifft ins Herz: Casting eines Todeskandidaten - mein Gott, so etwas tut man doch nicht! Das wissen Markus&Markus natürlich, und gleich zu Beginn definieren sie das Anforderungsprofil des Kandidaten/der Kandidatin mit provokativem Zynismus: „reflektiert, redegewandt - und am besten vor der Premiere tot.“ Markus&Markus nähern sich Margots Schicksal mit einem Einfühlungsvermögen, das nicht weniger überragend ist als ihr Casting. Ihr provokativer Zynismus ist nur eines von mehreren Mitteln, mit dem sie die sich beim Zuschauer einstellende emotionale Überwältigung brechen.

Margots letzte Reise wird mittels einer großartigen Collage in Szene gesetzt. Die schauspielerischen Fähigkeiten der beiden Performer sind begrenzt, aber die Wirkungsweise ihrer Aufführung haben sie perfekt kalkuliert. Auf einem riesigen Videoscreen sehen wir Ausschnitte aus Margots letzten 30 Tagen; ihr Leben aus der Zeit davor wird bruchstückhaft erzählt. Wenn wir die Trauer angesichts der berührenden Bilder und der mal einfühlsamen, mal pathetischen, mal die Grenze zum Kitsch streifenden Musik nicht mehr aushalten, wird die Stimmung gebrochen: durch sachliche Informationen zu dem zum Tod führenden Barbiturat, durch manch trashige pantomimische oder schauspielerische Einlage, durch eine atemberaubend inkorrekt eingesetzte Nespresso-Werbung, die den Eindruck hinterlässt, als werde da gerade das tödliche Pulver gebraut. Markus&Markus setzen Humor gegen allzu tiefes Mitgefühl - doch niemals nehmen sie Margot ihre Würde. Emotionen übermannen uns immer wieder.  

Denn Margot ist eine uneingeschränkte Identifikationsfigur. Sie ist eine strahlende, fast möchte man sagen: heitere alte Dame, im Angesicht des Todes noch mit einer ungeheuer positiven Lebenseinstellung. Der Film zeigt uns wunderschöne Bilder: Margot auf dem Balkon ihrer Dachgeschosswohnung, Margot auf dem Friedhof, wo sie sich von ihren Lieben verabschiedet, Margot beim Streicheln von Nachbars Hund, Margot auf der Rheinfähre. Margot leuchtet. Sie genießt die letzten Tage mit ihren unverhofften jungen Begleitern. Sie ist selbstironisch ohne Bitterkeit: „Wenn ihr öfter kommt, dann sag‘ ich da ab. Dann vermassel‘ ich euch das Geschäft“, sagt sie zu den beiden Markussen, und die kommentieren live auf der Bühne: Wir waren uns immer einig: Wenn solch ein Satz kommt, dann brechen wir ab. Aber Margot schreitet weiter voran bei ihrem Projekt, zielstrebig, glasklar im Kopf. Glasklar und doch auch herzlich schreibt sie Abschiedsbriefe, in denen sie ihren Entschluss zu sterben begründet. Sie feiert ein Abschiedsfest. Diese Frau muss ein glückliches Leben gehabt haben, denkt man - und erfährt von zwei Suizidversuchen. Dreißig Jahre sind sie her …

„Und betoniere dein Gesicht, verschal’s mit Eisen, geh heiter durch das Ziel, auch wenn die nicht danach zumut‘ ist“? - Nein, nicht Ezra Pound ist Margots literarischer Leitstern. Sie reflektiert ihren Wunsch nach Erlösung im Tod im Zitieren von Mascha Kaleko zum Beispiel: „Den eigenen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der anderen muss man leben." Aber auch von Grillparzer: „Das sind die Starken, die unter Tränen lachen,/eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen.“ Grillparzer trifft es wohl; seine Zeilen beschreiben diese starke, ungewöhnlich autonome Frau, der Markus&Markus mit ihrer Inszenierung ein Stück Ewigkeit geschenkt haben. Sechseinhalb Stunden vor ihrem Tod, in einem kleinen, sterilen Raum der Sterbehilfe-Organisation in Basel, liest Margot mit verteilten Rollen Ibsens Gespenster, die Szene, in der der unheilbar an Syphilis erkrankte Osvald seine Mutter um Sterbehilfe bittet. Sie liest wie auf einer Theaterprobe, ruhig und gefasst. Mancher würde zu diesem Zeitpunkt in der Bibel lesen - tatsächlich studiert Margot auch noch den Abschiedsbrief ihres Pfarrers: „Vielleicht gibt es ja ein Wiedersehen in der Welt Gottes“, heißt es da. - Vielleicht. Selbst wenn es eine Antwort auf diese Frage gäbe - an Margots Entschluss würde sie nichts mehr ändern. Margot geht strahlend in den Tod.

Wie viele Menschen haben geweint beim Tod von John F. Kennedy, von Kurt Cobain, Lady Di oder Freddie Mercury! Für uns waren sie Kunstfiguren; wir haben sie nicht gekannt. Margot aus Düsseldorf aber haben wir, so möchten wir glauben, in diesen 90 Minuten kennengelernt, und wer müsste nicht weinen, der diese starke, mutige und zugewandte Person hat sterben sehen? „Friede“ steht auf dem großen Banner, das rechts vom Bühnenhimmel schwebt. Es ist das Wort, das Margot sich für die Bühnendekoration gewünscht hat. Am 22. Mai 2014 wurde die alte Dame beigesetzt. Ganz sicher: Sie ruht in Frieden.