Übrigens …

Der reizende Reigen im Schauspielhaus Düsseldorf

Lustvoll körperferne Orgasmen

Jeder Schwanz ist zu schön für eine Bezahlung, behauptet die Hure in all ihren Marketing-Gesprächen - vorher. Nachher hält sie selbstverständlich doch die Hand auf. So muss auch der Angestellte einsehen, dass nicht „der ganze Arsch mitsamt den Löchern darin gratis“ ist, wie Steffen Lehmitz lüstern gegrummelt und gesabbert hatte - vorher. - Lehmitz geht nachher (in der nächsten Szene, aber wohl ein paar Tage später) zur hübschen lilafarbenen Friseuse. Als „richtig eine intelligente Frisur“ bezeichnet die ihn. Die Hure hatte ihn in der vorangegangenen Szene begrüßt: „Na, du schönes schnelles Auto, willst du nicht etwas machen mit deiner einsamen Karosserie an der meinigen Person …?“

Da haben wir sie wieder, die wunderbare Schwab’sche Sprache, die wir schon in der Dortmunder Premiere von Übergewicht, unwichtig: Unform (theater:pur berichtet hier) durch alle Poren unserer linguistischen Sensibilität in die eigene sprachlüsterne Person hineingeschlürft hatten. Derb ist die Sprache auch wieder, aber das hatte schon in Dortmund aufgrund der komödiantischen Inszenierungsweise von Johannes Lepper nur in wenigen Szenen im Vordergrund gestanden. Bei seinem Reigen, der erst postum das Licht der Theaterwelt erblickte, hat Schwab die Derbheit reduziert und auf einige Episoden beschränkt. Denn diesmal marschiert nicht nur die austriakische Unterschicht auf, sondern ein Querschnitt der österreichischen Bevölkerung: Nutte und Nationalratsabgeordneter, Schauspielerin und Sekretärin, Friseuse und Dichter. Aber all diese Repräsentanten der verschiedenen Gesellschaftsschichten sind miteinander verbunden: durch einen wahren Rammelreigen, der, wie der fiese Herr Schwab schon im Untertitel zu bemerken beliebt, sich an einem fünfundsiebzig Jahre älteren Text des reizenden Herrn Schnitzler orientiert. Und zwar ziemlich genau: Beide Texte zeigen, wie der SPIEGEL einmal zu Schnitzler schrieb, die „unerbittliche Mechanik des Beischlafs“, beide bestehen aus zehn kleinen „Akten“ (im doppelten Wortsinn), und bei beiden verführt jeweils einer der Beischläfer aus dem vorigen Akt einen anderen Partner im nächsten. Zum Schluss tritt die Hure wieder auf und schließt den Kreis. Selbst die gesellschaftlichen Positionen der Akteure aus den einzelnen Episoden hat Schwab nur ein wenig an die Lebenswirklichkeit des späten 20. Jahrhunderts angepasst: Aus dem Grafen ist der Nationalratsabgeordnete geworden, aus dem Stubenmädchen die Friseuse, aus dem Soldaten der Angestellte, aus dem „süßen Mädel“ eine Sekretärin. Die Begegnung zwischen Sekretärin und Ehemann bekommt in Zeiten von Harvey Weinstein & Co. so, wie sie von Schwab geschrieben und in Düsseldorf von Yascha Finn Nolting und Lili Epply gespielt wird, sogar große Aktualität.

Arthur Schnitzlers Reigen war im Jahr der Uraufführung ein Skandal - der größte, den die oftmals die verlogene erotische Moral des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts attackierenden Texte des - mit Sigmund Freud befreundeten - österreichischen Schriftstellers jemals auslösten. Er zog ein Aufführungsverbot bis ins späte 20. Jahrhundert nach sich. Schwab musste etwas drastischer werden, um wenigstens ansatzweise das Schnitzler’sche Skandalpotential zu erreichen. Selbstverständlich kontrastiert schon Schwabs Sprache mit der eleganten, fast höfischen Ausdrucksweise der Schnitzler-Figuren. Vor allem aber wird bei Schwab ausgesprochen, was Schnitzler verschweigt – und was die von sexueller Not, Geilheit oder Liebessehnsucht gepeinigten Figuren im Innersten bewegt. Das „Schwabisch“, die verschwurbelte Sprache seiner Protagonisten, wird so auch zum verdrucksten Ausdruck der Scham beim Benennen der erotischen Wünsche und Erlebnisse. Skandalpotential hatte der Text allerdings schon bei seiner Uraufführung am Schauspielhaus Zürich im Jahre 1995 kaum, denn die Gesellschaft war im Hinblick auf ihre Einstellung zur Sexualität längst libidinös und tolerant. Zudem ist Der reizende Reigen keiner der provokantesten, aber einer der witzigsten Texte des früh verstorbenen Vielschreibers Schwab.

Mit David Bösch hat sich einer der renommiertesten Theater-Regisseure der mittleren Generation bereitgefunden, den Text mit den Absolvent*innen des Mozarteums Salzburg zu inszenieren. Böschs Regie erweist sich für das Stück und für die Absolventen als Glücksfall. Er inszeniert die erotischen Ekstasen so lustvoll wie abstrakt: meist berührungslos, oft sind die Sexualpartner meterweit voneinander entfernt. Und doch gelingen den Schauspieler*innen hinreißend körperferne Orgasmen, gegen die Meg Ryan und Billy Crystal aus Harry und Sally verblassen. Das Ende der Szenen wird schon mal lethal zugespitzt: Da zückt die wunderbare Marie Jensen etwa die Friseusen-Schere, als sie schmählich abserviert wird. Später wird sie selbst noch einmal postmortale Rache üben.

Wunderhübsche kleine inszenatorische Witze, stets komödiantisch, aber nie albern, helfen den Schauspielern zu glänzen. Valentina Schüler als „junge Frau“ und Jonas Hackmann als Hausherr deuten doch einmal eine Kopulation mit Körperkontakt an: mit dem Rücken zu- und aufeinander. Woraufhin Schüler Kafkas Käfer-Verwandlung zitiert: „Als Gregor Samsa eines Tages aus seinen Träumen erwachte, …“. Wetten, dass dies ein zufälliger Proben-Gag war, den die Mannschaft gut gelaunt in die endgültige Spielfassung übernahm? Hackmann sieht in seiner Tenniskleidung aus wie Max Kruse von Werder Bremen – auch der dürfte nach allem, was man so liest, ein paar Episoden zu Schwabs reizendem Reigen beitragen können … - Nahezu alle bekommen eine kleine, aber feine Gelegenheit, sich mit einem verrückten Einfall zu präsentieren. Yascha Finn Nolting gibt den Ehemann zunächst als einen hünenhaften Langeweiler im Schlafrock, bevor er in seiner zweiten Szene ein großartiges Kabinettstückchen im Zungen-Lallen vorführt; „Dichter“ Alexander Prince Osei schlägt mit einem völlig meschuggen Poetry Slam in den Bann, und Florenze Schüssler singt ihren Orgasmus im Spotlight als Opernarie. Ihr gehören gegen Ende auch wieder ein paar der wunderschönen Schwab-Sätze: „Lass deine scharfe Zunge in meinem Mund entgleisen, du schwermütiges Mittelstands-Opferlamm“, schmachtet sie den Nationalratsabgeordneten an. Die Entgleisung bringt der sicher nicht allzu enthaltsamen „Schauspielerin“ eine wertvolle neue Erfahrung: „Das war das erste Volksvertretungsglied in meiner weiblichen Gleitbahn.“ - Ach Schwab, du monströser Sprach-Verdreher, warum hast du uns so früh verlassen?