Übrigens …

Volksverräter! im Bochum, Schauspielhaus

Wird der Linke link, wenn der Rechte recht hat?

Die Vorlage für diesen Abend ist Henrik Ibsens Drama Ein Volksfeind. In Ibsens Stück wird der Badearzt Dr. Thomas Stockmann zum Volksfeind erklärt, als er den Skandal des verseuchten Heilwassers im lokalen Kurbad aufzudecken droht und damit die größte Einnahmequelle der Kleinstadt gefährdet. Am Schauspielhaus Bochum verschärft Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer die Konstellationen aus Ibsens Text. Das manifestiert sich schon im Titel: Volksverräter! Der Begriff „Volksverräter“ war das „Unwort des Jahres 2016“, und er verdiente sich diesen Titel aufgrund seiner inflationären Verwendung durch Pegida-Demonstranten und AfD-Politiker, die ihn gegen die Gilde eher humanistisch denkender Politiker wie die Bundeskanzlerin verwandten. Thomas Stockmann ist auf dem rechten Weg, denn er will eine Gesundheitsgefährdung der Einwohner und Badegäste vermeiden. Doch so, wie er in Bochum auftritt, möchten wir eher weniger mit ihm zu tun haben. Denn er gehört zur neuen Rechten.

Und er lebt wie ein alter Rechter. Im altdeutsch möblierten Wohn- und Esszimmer hängt ein allerliebstes Familienbild in perfekter nationalsozialistischer Kraft-durch-Freude-Ästhetik. Wenn die Family zum Frühstück ihre frisch gemolkene Milch trinkt, handelt es sich vermutlich um Ziegenmilch, denn die Bühnen-Wohnung ist angeblich naturgetreu dem Wohnzimmer von Götz Kubitschek nachempfunden, der auf seinem „Rittergut“ im sachsen-anhaltinischen Schnellroda Ziegen züchtet und sich als intellektuelles Zentrum der neuen Rechten inszeniert. Die realen Bochumer Schauspieler geben sich als fast naturgetreues Abbild der Kunst-Idylle überm Esstisch: Roland Riebeling ist der Badearzt in grau gestreifter Joppe, seine züchtige Haus- und Ehefrau Kathrine wird von Raphaela Möst mit streng über den Hinterkopf geflochtenem Zopf als Kämpferin für das deutschnationale Kulturerbe gegeben, und Eva Hüster trägt als Tochter Paula natürlich blonden Gretchen-Zopf. Ach ja: und dann ist da noch der Schwiegersohn in spe. Auch er ist blondiert über dunklem Haupthaar und … Türke. - Türke? Er heißt Akif Ripinçci, frei nach dem Meister aller Katzenkrimis Akif Pirinçci, dessen Felidae- und Francis-Bestseller abrupt dem Vergessen anheimfielen, nachdem er sich in einem unsäglichen Pegida-Auftritt Anklagen wegen Volksverhetzung einhandelte. Elwin Chalabianlous Ripinçci allerdings wird es noch weit bringen, steht doch sein künftiger Schwiegervater bald vor der Machtübernahme. Unter all diese Nazi-Schrate mischt sich noch ein Mann mit Wuschelfrisur, wildwucherndem Vollbart, grauem Hawaii-Hemd und unvorteilhafter Hornbrille, den wir ohne Blick ins Programmheft niemals als den normalerweise eher gesittet und ein wenig bieder auftretenden Schauspieler Daniel Christensen identifiziert hätten. Er ist der Redakteur Hovstad, ein hochengagierter, aber etwas dümmlich erscheinender Opportunist mit Tendenz zum Rechtsausleger. Schauspielerisch schießt der an diesem Abend den Vogel ab.

Links also haben wir Thomas Stockmanns rechtes Heim, rechts dagegen steht die linke Lounge der Noch-Bürgermeisterin Petra Stockmann. Die Linken wohnen geschmackvoll in der Kopie einer ebenfalls real existierenden Luxus-Bude eines Friedrichshainer Intellektuellen. Weiß und edel sind das Sofa und die Klamotten der Eheleute, schwarz ist der Flügel, und bei der Kunst überm Sitzmöbel handelt es sich um mit der sowjetischen Propaganda-Kunst kokettierende Pop Art. Veronika Nickl ist eine handfeste SPD-Karrieristin, die ihrem sympathischen, aber verpeilten Alt-68er-Gatten (Jürgen Hartmann mit Karl-Marx-Bart, langem Zopf und linksintellektueller Nickelbrille) vermutlich finanziell die Existenz sichert. Tochter Pauline, rothaarig, Nerd-Brille, hätte wunderbar in die 1972er Abiturklasse des Unterzeichners gepasst und damals als interessante, aber reichlich aufmüpfige Persönlichkeit die Neugier, vielleicht sogar das erotische Interesse des theatermail-Schreibers geweckt. Wie ihre Kusine ist sie mit einem jungen Mann migrantischen Ursprungs liiert: Armin Wahedi Yeganheh gibt den iranisch-stämmigen Mehrat mit violetten Socken zum großformatig gemusterten hellen Anzug als aussichtsreiche Zukunfts-Hoffnung für die alternde Linkspartei. 

Gespielt wird zunächst sehr komödiantisch, und das ist nicht platt, sondern amüsantes politisches Kabarett. Die zahlreichen Eigentexte, die Schmidt-Rahmer in den Ibsen-Plot montiert hat (vom Original-Text ist eh nur wenig übrig), sind zum großen Teil wörtliche Zitate: aus politischen Debatten, von Pegida-Demos, aus den sozialen Netzwerken. So wie der Rechtsaußen Thomas Stockmann mit der Entdeckung des verseuchten Badewassers ein reales Problem aufspießt, sind auch viele seiner übrigen politischen Argumente nicht ganz von der Hand zu weisen. Da wird uns manchmal recht mulmig zumute: „Die Inklusion von Behinderten und Migranten zieht das Niveau an den Schulen herunter“, agitiert er zum Beispiel. Schitte, denken wir zerknirscht: So ganz unrecht hat er ja nicht. Denn das Problem der dem gerechtfertigten politischen Anliegen der Inklusion angemessenen Aus- und Fortbildung der Lehrer und der Schaffung zusätzlicher Stellen hat die Politik ja noch nicht gelöst. „In Frankfurt liegt der Anteil der Migranten an den unter 6jährigen bei 69 Prozent“, weiß die Leuchtschrift auf dem Videoband. Und: „Gemäß einer Meldung der FAZ wurden im Jahr 2012 1,8 % der Sexualdelikte von Zuwanderern begangen. Im Jahr 2017 lag der Anteil dieser der Zuwanderer an diesen Delikten über 9 %.“ – Au weia: Das sind die üblichen populistischen Parolen, aber sie basieren auf vermutlich statistisch korrekten Erhebungen. Und was macht die politisch korrekte Fraktion links der Mitte damit? Sie greift auf bürokratische Erklärungen und das Zitieren von EU-Regularien zurück, verliert sich in politischen Manövern anstatt die Sorgen der einfachen Bürger ernst zu nehmen. Beim Wasserproblem aber wird Petra Stockmann, die Bürgermeisterin unseres Vertrauens, massiv: Sie verbietet die Veröffentlichung der vom Badearzt erhobenen Daten und die Weitergabe an den Aufsichtsrat des Bades.

So ironisch das alles auch gespielt wird, so politisch brisant ist es: Der Nazi setzt sich für die einwandfreie Behandlung des Problems ein, und die SPD-Bürgermeisterin kehrt es unter den Tisch. Schmidt-Rahmer greift die gesamte politische Kultur unseres Landes an. Wenn wir so weiter machen, scheint er zu sagen, dann kommen die Populisten ans Ruder. Satirisch wird der Ablauf von Bürgerversammlungen auf den Krampf genommen, bitterböse der halbgare Umgang der Politik mit Extremisten. Die Bürgermeisterin ergreift die Flucht nach vorn: In der Bürgerversammlung wird eine Publikumsbeteiligung zugelassen. Die neue Rechte vermag daraus Kapital zu schlagen: Nazi-Tusse Paula singt ein rechtsradikales Lied, und im Parkett stimmen Menschen mit ein – verdeckte Schauspieler, klar, aber es läuft einem kalt den Rücken herunter. Die Versammlung eskaliert mit einer durchgeknallten Rechtsruck-Rede von Akif Ripinçci; Dennis Herrmanns Aslaksen, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Bäder-gesellschaft, reagiert mit der feinen, zurückhaltenden Noblesse des neuen Außenministers Maas. Zum Thema redet bald niemand mehr. Nur Daniel Christensens trotteliger Hovstad hat wieder einen seiner grandiosen Auftritte und spricht statt übers Wasser über echte oder falsche Brüste im Allgemeinen sowie unter besonderer Berücksichtigung von Melania Trump.

Wie perfide aber seine Rede endet, finden Sie bitte selbst heraus. Petra Stockmann stolpert letztlich, weil der scheinbare Hofnarr Hovstad zum Erpresser wird. „Manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern“, dichtete einst Ernst Jandl: „Werch ein Illtum.“ Nach der Pause haben sich lechts und rinks zumindest vermischt. Die linke Bürgermeister-Familie nimmt am Eichentisch Platz; im altmodischen Theaterbühnen-Rahmen singt sie selbstkritische Opernarien. Längst haben sich Hochkultur und Bourgeoisie in Eskapismus geflüchtet, und auch die Politikerphrasen der wohlmeinenden Mitte laufen Gefahr, wie es Paulina ausdrückt, in eine „gebildete Form von Hate Speech“ abzudriften.

Leider driftet nach der Pause auch Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung ab. Was zuvor spitzes, treffendes politisches Kabarett war, manchmal auch Agitprop der intelligenten Sorte, tappt jetzt in die typischen Fallen, in denen sich auch zum Holzschnittartigen neigender Agitprop meist unweigerlich verheddert. Der kreischende Auftritt der Nazi-Gattin gerät Raphaela Möst zu einer peinlich unintellektuellen Denunziation – das dürfte kontraproduktiv sein, denn wie bei der etablierten Politikergilde unserer Zeit werden die Sorgen der rechtsextrem wählenden Bürger nicht ernst genommen. Daniel Christensen erzählt nun eine Anti-Globalisierungs-Geschichte und realisiert wohl nicht, dass er damit eine extrem konservative, wenn nicht reaktionäre Propaganda betreibt. Nicht Thomas Stockmann wie bei Ibsen, sondern der Exbürgermeisterinnen-Gatte Kathro hält die Wutrede gegen die dumme Mehrheit. Er schreit. Schreit an mit faschistoiden Attitüden gegen die Brüller von der anderen Seite. Schmidt-Rahmers Inszenierung versinkt vorübergehend in lärmendem Agitprop.

Die Rechten aber sind an die Macht gekommen. Der neue Bürgermeister heißt Thomas Stockmann, und seine Inauguration erfolgt mit Pomp und Hollywood-Kostümen. Die Worte, die er spricht, identifizieren wir leicht. Es sind die Worte von Donald Trump. Populismus verwandelt das Land in ein rasselndes Kettenhaus. Lasst uns fliehen.