Eine spannende Nordpol-Revue
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wird oft als die heroische Zeit der Polarfahrten bezeichnet, Schweden und Norwegen konkurrierten mit Österreich und Ungarn, die Briten starteten die Franklin-Expedition, auch Deutschland versuchte die Nordostpassage mit dem Schiff zu durchqueren. Zwar wurden wesentliche geografische, meteorologische und ozeanographische Erkenntnisse gewonnen; alle scheiterten aber an den extremen Bedingungen um die Pole, insbesondere am mühsamen Vorwärtskommen. Der schwedische Ingenieur und Polarforscher Salomon August Andrée hatte die Idee zu einer Ballonreise hinweg über den Nordpol mit Ziel Alaska oder Russland. Da Schweden ein wenig neidisch auf die Erfolge Norwegens schielte, erreichte der wortgewaltige Andrée die Zustimmung seines Landes für die Finanzierung eines Ballons und die eigentliche Fahrt. Diese hatte er sich schön gerechnet für die dreißigtägige Reise; der dreilagige Ballon sollte mit Wasserstoff gefüllt werden, und er sollte steuerbar sein durch Schleppleinen, damit er langsamer sei als der Wind. Wie das funktionieren sollte, erklärte Oberingenieur Andrée (Kornelius Heidebrecht) im Theaterstück Die weiße Insel im schicken Frack mit Fliege per Handzeichnungen und Overhead-Projektor und bei durchgängigem, weitgehend improvisierten, originellen Sound von Henning Beckmann (Posaune) und Daniel Brandl (Cello).
Marko Berger, rühriger Chef der Orangerie, hatte das deutsch-russisch-ukrainische Trio „subbotnik“ eingeladen, welches immer wieder durch ihre Poesie und Musikalität beglückt. Der Begriff stammt aus dem DDR-Sprachgebrauch für unbezahlte Einsätze zu Gunsten der Allgemeinheit, zuletzt verwendet für die Aufräum-Truppen in Tschernobyl. Ein Abend von subbotnik ist immer ein künstlerischer Grenzgang und eine Erkundungsreise, die spielerisch die Trennung von Realität und Utopie hinterfragt und unterläuft. So auch hier, trotz der eigentlich traurigen Geschichte (theater:pur-Besprechung der Uraufführung hier).
Denn hier wird die gescheiterte Expedition zum Nordpol nachgespielt: Dabei sind der Ingenieur Knut Frenkel (Martin Kloepfer) und der junge Fotograf Nils Strindberg (Oleg Zhukov). Alle wie ihr „Chef“ im Frack, klassisches Zeichen einer besonderen Situation. Dazu die Musiker, die auch auf einem echten alten Harmonium spielen, wo man mit den Füßen für den nötigen Wind sorgen muss. Darüber ein großes Gemälde des Expeditionsleiters Fridtjof Nansen, fast wie ein anzubetendes Heiligenbild. Im Wechsel mit Erzählungen, Diskussionen, mit Gesang und heftigen Deklamationen bis hin zur Schreierei erfährt man die historisch belegten Details. Andrée springt auf ein Podium: „Die Aufgabe ist so schwer, dass ich von einer Erledigung nicht absehen kann. Ein Versuch lohnt, wir werden den Pol erobern, für Schweden“. Die erste Ballonfahrt klappt nicht, erfährt man, die zweite dann schon, allerdings mit heftigen Bodenberührungen und Verlust der Schleppleinen. Gelandet oder gestrandet? Es geht mit dem Ballon nicht weiter. Zu Fuß, aber wohin? Es gibt zwei zuvor angelegte Verpflegungsdepots, mehrere Hundert Kilometer entfernt; aber wohin driftet das Eis, nach Südwest oder Spitzbergen, das ist die große Frage.
Die jeweilige Situationsmusik geht unter die Haut, man hört mehrstimmige Choräle, Dixie klingt durch auf der gestopften Posaune, oder auch nur Hintergrundklänge. Die Zuschauer im ausverkauften Theater werden geschickt in die Geschichte eingebunden, leiden fast mit, wenn das Eis bricht, freuen sich über das Festessen mit Champagner bei Strindbergs Geburtstag. Und erschrecken, wenn die Überwinterung auf dem Eis droht, da die Drift die Truppe ungünstig abtreibt. Aber niemand hat den Mut verloren, wie Andrée immer wieder betont. Ist das Ironie oder krasse Selbstüberschätzung? Tatsächlich war das Vorhaben extrem leichtsinnig; gesundheitliche Probleme wie die eingetretene Schneeblindheit wurden nicht bedacht, von dem Risiko der Ballonfahrt ganz abgesehen.
Der untrainierte Strindberg stirbt als erster, liebevoll drücken die Freunde ihm die Augen zu. Er hat der Nachwelt eine authentische Fotodokumentation geschenkt, die 33 Jahre später von einem Robbenfänger entdeckt wird. Auf der „weißen Insel“ Kvitøya werden das Lager und die Überreste der Expedition gefunden, vieles konnte restauriert und in ein Museum gegeben werden. Die sterblichen Hüllen der mutig-leichtsinnigen Forscher wurden eingeäschert und zusammen beigesetzt. Und die Filme konnten noch entwickelt werden. Und vor allem ist das Tagebuch von Solomon Andrée erhalten und einigermaßen lesbar, aus dem die Schauspieler quasi zitiert haben.
Stichworte: Die Sehnsucht nach Norden, Männerträume, die größten Helden unserer Zeit, da das Undurchführbare erreicht wurde, keine Garantie, wir wollten nur eine Chance, und zum etwas melancholischen Schluss „Er war ein Greis, ich aber jung“. Das Stück ist eine Spaß-Produktion von Subbotnik, wie auf der Premierenfeier zu erfahren war. Man hatte sich mit Innuit-Geschichten beschäftigt, mit Größenwahnsinn, mit Männerwelten. Daraus entstand halt Die weiße Insel, eine einfach schöne Collage von Musik, Sprache, Theaterfetzen, toll gespielt, sehr spannend, ans Herz gehend. Und zu Recht mit riesigem Applaus bedacht.