Erbarmen mit den Armen
Sagen Sie mal schnell… wo liegt noch mal Guinea-Bissau? In Ostafrika? Oder doch eher im Westen? Wenn Sie es nicht wissen, ist das nicht schlimm: Rainer weiß es auch nicht, und der will immerhin Spenden sammeln für das Land, genauer gesagt für ein ganz bestimmtes Schulprojekt in diesem Land, von dem er aber auch nichts Genaues weiß. Für den Preis eines Cocktails kann man dort ein Kind vor dem Tod durch Unterernährung retten. Rainer, in Anna Elisabeth Fricks Inszenierung von Benefiz - Jeder rettet einen Afrikaner am Schauspiel Wuppertal zusammengehaspelt von Matthias Eberle, stammt aus dem gehobenen Mittelstand und hält sich - so suggeriert zumindest das Gemälde vom „Tod des Marat“, das hinter ihm in seiner Spendensammel-Box prangt, für einen Bildungsbürger. In Afrika hat er ein paar Bildungslücken: Sterben da nun 80 Millionen Menschen jedes Jahr an Hunger und Unterernährung, oder ist das nicht doch ein Druckfehler, und es sind nur 8 Millionen? Achtzig? Da staunt der Rainer. Das wäre ja einmal Deutschland!
Fünf Wohlgesinnte „proben verantwortungsbewusstes Weltbürgertum“: Sie haben sich zusammengefunden zu einem Testlauf für eine Benefiz-Veranstaltung. Ihr Herz ist groß, doch ihre Welt ist klein: Was sie von Afrika und Entwicklungshilfe wissen, fußt auf Vorurteilen und Klischees. Mit naiver Großzügigkeit, aber eben auch westlicher Ignoranz kämpfen sie gegen „Dürre, Drogen, Diktatur“ auf dem schwarzen Kontinent. Jeder Satz ist ein Fettnäpfchen. Schon die Ausstattung von Christian Blechschmidt dechiffriert das Denken dieser Figuren. Für den geplanten Charity Event hat jede(r) einen Sperrholz-Container gebaut, in, auf und vor dem er/sie haust bzw. agiert. (Das ist perfekt coronakompatibel, ohne dass es auffällt: Ein jeder Schuster bleibt bei seinem Leisten, und ein jeder Gutmensch bei seinem Verkaufs- und Sammel-Stand.) Die Sperrholz-Buden sind wunderhübsch ausgestattet. Stefan Walz als gütiger Opa Eckhard steht mit Safari-Hut in einer Art tropischem Garten, Julia Meier als Eva hält mit Bananenblättern um die Hüften und Muschel-BH ein „Save the Children“ Leaflet in die Höhe und hat ihren Stand mit einer Ananas, bestickten Schirmchen und Deckchen, einem Bastvorhang sowie allerlei sonstigen Souvenirs geschmückt. Meier ist die Schau in dieser Inszenierung: Naiv und wohlmeinend bedient sie jedes Klischee und legt minütlich neue Schichten von unbewusstem Alltagsrassismus frei. Als Zugpferd für die Veranstaltung wollte man eigentlich eine echte Promi-Frau aus der Schauspiel-Szene gewinnen, aber nun muss man sich mit der leider wenig Renommée versprechenden Christine begnügen. Annou Reiners macht virtuos auf C-Promi und trägt bei jedem Auftritt eine neue Glitzer- oder Glamour-Robe, die weder zum Typ der Schauspielerin noch zum Zweck der Veranstaltung passt. Nur Kevin Wilke als Leo, der sich gelegentlich zum Moderator der Veranstaltung aufschwingt, bleibt ein wenig blass.
Saftige Satire also. Zum Höhepunkt der Spendenkampagne formieren sich alle zum Tanz, trommelnd und stampfend wie eine Eingeborenen-Combo in einer kolonialen Völkerschau. Mit Schwung rammt Ingrid Lausunds Text sämtliche Klippen der political correctness. Schnell wird der unbewusste Alltagsrassismus in unserem Denken, unserer Sprache und unserer Gesellschaft deutlich. Unterhaltsam, aber mit nicht zu ignorierender Spitze wird den Zuschauern vor Augen geführt, wie vermeintliche Nettigkeiten zu westlicher Arroganz, scheinbar rationale Überlegungen zu Zynismus werden. Nützt es noch, einer vierzehnjährigen Afrikanerin zu helfen, oder ist die längst durch Armut, Hunger und Bildungsferne für die Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit verloren? Wann ist eigentlich ein Menschenleben mehr wert als ein Cocktail? Ist der Bäcker eigentlich genauso viel wert wie ein Arzt? Ist der Kinderschänder gleich viel wert wie der Mensch, der das Aspirin erfunden hat? - Holla die Waldfee: Wetten, dass es auf solche Fragen auch im Publikum wechselnde Zustimmungsraten gibt? „Erbarmen mit den Armen“, sagt Rainer ironisch, meint möglicherweise seine Charity-Kollegen mit dieser Ironie - und doch kann auch eine solche ironische Aussage zutiefst verletzend wirken.
Erbarmen mit den Armen? Das könnte das Stichwort für Stefan Walz sein. Plötzlich steigt der so sanfte, gutmütige, christlich bewegte Eckhard aus seiner Tropenkiste und hebt an zu einer mitreißenden, rhetorisch herausragenden Wutrede. Güte, Menschenliebe, Mitgefühl und Barmherzigkeit fordert er ein - Begriffe, die, wie er meint, heute nicht mehr in den Mund genommen werden dürfen, die als Schwäche gelten. Plötzlich macht sich Betroffenheit breit im coronabedingt spärlichen, nur aus Ehrengästen und Pressevertretern bestehenden Premierenpublikum, und Eckhards verschreckte Mitstreiter verstecken sich in ihren Containern. Ausgerechnet die verhinderte Diva Christine ist es, die als erste den Kopf aus dem Bretterverschlag steckt: „Willst du das so machen? - Also, ich fand’s gut.“
Ob auch die Aufführung gut ist? Schwer zu sagen. Das Stück ist, obwohl an ungezählten Bühnen bis heute immer wieder nachgespielt, nämlich alles andere als perfekt. Der Schreiber dieser Zeilen hatte die Ehre, im Jahre 2011 das (damals schon zwei Jahre alte) „Original“ sehen zu dürfen - die Inszenierung vom Theater Eigenreich Berlin von Ingrid Lausund persönlich mit ihrer Truppe lausundproductions. Die erste halbe Stunde war witziger, pointierter gespielt als in Wuppertal, aber dann lief die Maschinerie ähnlich leer wie Anna Elisabeth Fricks Nachspiel. Damals wie heute nahm die Aufführung erst mit der späten Wutrede von Eckhard wieder Fahrt auf - plötzlich reißt sie mit, bekommt sie Relevanz, macht sie betroffen. Die Wuppertaler Bühne von Christian Blechschmidt ist ein Hit - sie passt zu dem satirischen, aber niemals verletzenden Ton des Stücks wie Pott auf Deckel. Und das orgasmische Stöhnen des Wuppertaler Ensemble beim auf die Charity-Probe folgenden Frühstück wird uns auch im Gedächtnis bleiben - da wird noch einmal die ganze Dekadenz unserer Wohlstandsgesellschaft vorgeführt.
Guinea-Bissau liegt übrigens in Westafrika - südlich vom Senegal und an der Atlantikküste. Der Schreiber dieser Zeilen reiste einst mit dem Landrover durch Burkina Faso, Togo und Benin und übernachtete in landestypischen Unterkünften. Er brauchte kein Rehgeschnetzeltes mit Tagliatelle wie die Wuppertaler Spendensammler, als er zurück nach Deutschland kam, aber das Schweineschnitzel mit Kartoffeln und Gemüse war eine Wohltat. Auf der ersten Dinner Party umarmte ihn eine ihm unbekannte, aber begeisterte Dame: „Ich war auch in Afrika - war das angenehm dort! Und das Essen war so lecker!“ - Die Dame war über die Grenzen ihres Hotel-Ressorts nicht hinausgekommen, und nun hält sie den Club Méditerranée für den Senegal.