Übrigens …

Das beispielhafte Leben des Samuel W. im Mülheimer Theatertage

Eine eindrucksvolle Polit-Collage

Auf der dunklen, kahlen Bühne erhebt sich Volksgemurmel, dann steigt ein Mann in biederem Anthrazit-Anzug mit Schlips und Kragen auf ein Podest – dort wird er wortlos bleiben bis zum Schluss und verschiedene Posen durchspielen (unermüdlich: Elise de Heer). Hinter ihm wird auf einer riesigen Projektionsfläche kurz ein Video eingespielt, vielleicht eine Wahlversammlung des Samuel W.? Die Frage wird gestellt: „Wer ist Samuel W.“?

Dann wird es hell auf der Bühne und fünf Figuren, von Kopf bis Fuß in strahlendes Weiß gekleidet, beginnen zu werkeln. Die Frage nach Samuel W. wird wiederholt, während die Leute in Weiß aus weißem Material zu bauen beginnen: ein Haus mit Pool, einen Lattenzaun. Ein etwas fragiler Sonnenschirm wird aufgestellt, später kommen Baum, Kinderwagen, Möbel und Fahrrad - alles in Reinweiß - dazu.

Da drängt sich die Frage nach dem Sinn dieser unbunten Farbe auf. Sie kann Unschuld oder Neuanfang bedeuten (das weiße Blatt Papier), aber es kann auch laut Farbenlehre eine Mischung aus Rot, Blau und Grün sein. Da müsste man allerdings Grün gegen Braun tauschen. Jedenfalls wirkt das Ganze modellhaft, realitätsfern, eher neutral spießig als nach Aufbruch.

Wie auch immer, auf der Bühne verbreitet sich gute Laune. Es wird geplaudert. Wir hören, dass Samuel ein „ungeduldiges Kind“ war, nur mäßig begabt, das „schüchtern in der Ecke stand“. Dazu wird der Kinderliedklassiker von Paul Hindemith gesungen: „Wir bauen eine neue Stadt, die soll die allerschönste sein“. Der Optimismus wird allerdings getrübt durch Erinnerungen an Gestank, unschöne Geräusche, an Kohlegruben mit Smog, Ruß und Dreck, an schäumende Gewässer und verlorengegangene Natur.

Dieser Anfang könnte der Beginn eines ganz normalen Theaterstückes sein. Links die Häuslebauer Martha Pohla zunächst hochschwanger, an ihrer Seite ihr fürsorglicher Partner David Thomas Pawlik; rechts hinterm Zaun Sabine Krug als freundliche, redefreudige Nachbarin. Dazu kommen noch drei Bauarbeiter mit weißem Schutzhelm, sie alle plaudern über dies und das. Doch irgendwann wird deutlich, dass das nicht wirklich Gespräche sind, so interessant das Gesagte auch sein mag, dass die Figuren nicht aufeinander eingehen, vielmehr schlicht irgendeine Meinung äußern, mal zu politischen Fragen, zu ihrer eigenen Geschichte oder eben zum Bürgermeister-Kandidaten einer obskuren Partei, dem titelgebenden Samuel W. Dabei muss das, was sie eben behaupteten, so gar nicht mit dem, was folgt übereinstimmen. Muss es auch nicht: denn diese fünf Figuren stellen nicht fünf Personen dar, geben nicht die Meinung von fünf, sondern von hundert Menschen wieder.

Tatsächlich steht es schon im Untertitel, dass es sich bei diesem Text um „Interviewsequenzen“ handelt. Im Programmheft erfahren wir, dass der junge Autor Lukas Rietzschel (29 Jahre), der schon lange in Görlitz lebt, vor der Kommunalwahl 2022 hundert Menschen interviewte und dabei nicht nur Details über den problematischen Spitzenkandidaten der ultrarechten Partei erfuhr, sondern auch über das Leben und die politischen Einstellungen der Befragten. Über ihre Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Nöte. Aus einem opulenten Textvolumen fügte der Autor gleichsam die Puzzleteile zu einer Collage ohne Rollenzuweisungen zusammen, die sich wie ein Fließtext liest.

Der Schauspieldirektor Ingo Putz übernahm die Regie der Aufführung des Auftragsstückes und macht aus dem Prosatext durch eine einfallsreiche Spielhandlung ein höchst unterhaltsames Bühnenereignis. Er verteilt den Text auf die fünf Personen, lässt sie singen, tanzen, sich erinnern, schimpfen und planen. Dabei müssen Text und Spiel nicht übereinstimmen. Da wird Tischtennis gespielt, dass die Bälle ins Publikum fliegen und dabei über den Ministerpräsidenten Michael Kretschmer hergezogen oder bemäkelt, dass im Film Das Leben der Anderennur Westdeutsche spielen und der Osten auf die Stasi reduziert wird. Und immer wieder geht es um das Abgleiten des an sich unscheinbaren Samuel W. in den Rechtsextremismus, was mal mit Verständnis und mal mit Besorgnis daherkommt.

Am Ende stehen sich Meinungsfetzten gegenüber wie: „Wir wollen die alte Ordnung wieder!“ und „Lang lebe die Demokratie“! Dann erfahren wir auch noch den Namen der obskuren Partei, für die Samuel W. antritt. Natürlich ist es die AFD. Im Stück tritt Samuel W. vor der Wahl von der Kandidatur zurück, um in die Landespolitik zu gehen. Im wahren Leben wurde der AFD-Kandidat Sebastian Wippel in Görlitz - das sonst stimmige Vorbild des Samuel W.- im zweiten Wahlgang vom CDU-Konkurrenten überholt, ist jetzt aber tatsächlich im Landtag von Sachsen. Bei soviel Übereinstimmung ist die Äußerung des Autors, dass es sich bei W. nicht um ein Beispiel aus dem wahren Leben handele, zumindest für die Leute in der Lausitz in Ost-Sachsen nicht akzeptabel.

Für uns Westdeutsche mag das im Titel behauptete „beispielhafte“ im Leben des Protagonisten gelten, denn möglich ist vieles hier wie da. Das Mülheimer Festival-Publikum applaudierte begeistert.