Übrigens …

Schwanensee im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Ohne Schwäne

Schwanensee - für viele "das Ballett aller Ballette" - lebt von Peter Tschaikowskis romantischer Musik und berückend schönen, langen Reihen weißer Schwäne im zweiten und vierten Akt. In Bridget Breiners Choreografie gibt es keinen einzigen weißen Schwan. Odette ist ein Waldmädchen im megakurzen, weißen Fetzenkleid, das sich - wie die Nixe Undine - nach einem Leben in Liebe zu einem Menschen sehnt, aber ebenso einsam und verzweifelt wie Undine wieder in ihr eigentliches Leben zurückkehrt, als der Mann sie betrügt und flieht. Frei wie ein Vogel wird sie nun wieder sein - aber auch verletzt wie ein sterbender Schwan. Schwanen-Flügelschlagen und -Posen sprechen Bände.

Zur Ouvertüre erscheint hinter dem Gazevorhang Odette (Kusha Alexi) schemenhaft, in einen hellen Schleier gehüllt, und wird von drei grau verschleierten "Schatten" durch die Lüfte getragen. Auf dem Rückprospekt prangt das Ölgemälde eines Schlosses (Ausstattung: Jean-Marc Puissant). Auf den Stufen davor versammeln sich Mädchen und Jungen, um fröhlich den Geburtstag des Prinzen zu feiern. Allerdings sehen diese jungen Leute eher wie die Dorfjugend aus Giselle aus. Wie überhaupt immer wieder die Ambivalenz zwischen gestern und heute, aristokratischer und bürgerlicher Gesellschaft, Märchen und Realität irritiert. Allzu oft fragt man sich, was Breiner nun tatsächlich sagen will - und in welcher Zeit und Sprache. Der goldene Rahmen über der Bühnenrampe ist halb weggebrochen - ein treffendes Symbol.

In sich gekehrt tritt der (hier namenlose) Prinz auf (Ordep Rodriguez Chacon). Die resolute Königin (Ayako Kikuchi) hat drei Höflinge im Tross - die vorherigen Schatten; denn später wird sie sich als Rotbart gerieren. Sie präsentiert dem Sohn seine sehr irdische, aufgetakelte "Verlobte" (Aidan Gibson), die sich als fremdgesteuerte Verführerin Odile entpuppt. Eine weitere Parallele zu Undine fällt auf: im zweiten Akt umgeben die jungen Leute als Festgäste in farbigen Tellertutu die Fremde, bedrängen und verspotten sie. Leider tanzen sie dabei nicht den berückenden Walzer, den Tschaikowski zu dieser Schwanen-Szene komponiert hat, und auch der Tanz der kleinen Schwänen wird nur angedeutet.

Bei der Musik geht eben leider Breiners Konzept, wie bei so vielen zeitgenössischen Schwanensee-Fassungen, nicht auf. Die Seele der Musik nimmt unweigerlich Schaden, wenn sie sich nicht im Tanz auf der Bühne spiegelt. Freilich hat in diesem Fall die Neue Philharmonie Westfalen unter Heiko Mathias Förster Anteil. Das lassen schon die ersten Holzbläsertöne ahnen: hölzern und kalt klingt das - ebenso wie später viele elegische Streicherkantilenen derb und bar jeden melancholischen Pathos, das zum Zauber dieses Balletts beiträgt. Dass Breiner die Ballettmusik durch drei Lieder ergänzt (Gesang: Noriko Ogawa-Yatake, Klavier: Salvador Caro) - darunter "Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide" - ist ein schmerzvoller Bruch.

Tänzerisch hat Breiner ihre 14-köpfige Company stark verändert. Vier Tänzerinnen sind neu und vier Tänzer, alle klassisch ausgebildet und sehr versiert im neoklassischen Duktus. Das sorgt für Homogenität und auch reizvolle tänzerische Akzente, zum Beispiel in den Nationaltänzen und im letzten Ensemble.

Kusha Alexi ist eine fabelhafte Tänzerin mit makelloser neoklassischer Technik. Nur: eine lyrische Ballerina - eine Odette zu Tschaikowskys wehmütig klagenden Holzbläserklängen - ist sie nicht. Ihre schlanken Arme mit den hinreißend schönen Händen, ihre geradezu männlich muskulösen, langen Beine, ihr durchtrainierter Rücken, ihr Gesicht, umrahmt von moderner Kurzhaarfrisur, sind geprägt von der neoklassischen, "abstrakten" Moderne. Auch ihr Prinz, Ordep Rodriguez Chacon, Neuzugang aus Martin Schläpfers Ballett am Rhein, ist ein moderner Tänzer. Zwar findet er sich bestens in die Rolle des melancholischen Prinzen. Aber in den großen Pas deux - die hier eher Duette sind - erkennt man den kraftvollen Tänzer, den man nebenan in Düsseldorf und Duisburg erlebte.

Breiner, vom Deutschen Bühnenverein für den FAUST in Choreografie für ihr Aschenputtel-Ballett Ruß nominiert, hat für Schwanensee noch keine klare Linie und keine zeitgemäße, unverwechselbare choreografische Handschrift gefunden. gefunden. Sie ist jung genug, um sich noch lange mit diesem Klassiker befassen zu können.