Tanz ums tote Pferd
Alain Platel ist nicht nur ein Superstar des modernen Choreografischen Theaters, sondern auch Dauergast der Ruhrtriennale. Bereits in der allerersten Triennale-Spielzeit im Jahre 2003, damals unter dem verstorbenen Gründungs-Intendanten Gérard Mortier, gelang ihm mit dem Mozart-Projekt Wolf! ein Welterfolg, der den Namen des neuen Festivals in alle Welt trug. Im vergangenen Jahr waren er und seine wunderbaren Tänzer von den ballets C de la B mit Tauberbach, einer Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen und ihren Schauspielern, zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Für sein Ruhrtriennale-Projekt im Jahre 2016 hat sich Platel nicht Mozart, sondern Gustav Mahler vorgenommen, einen Komponisten, zu dem er gemäß Selbstauskunft bislang ein eher gestörtes Verhältnis hatte. Doch gespannt durfte man nicht nur deshalb sein, sondern auch, weil er erstmals mit einer Landsfrau aus der Bildenden Kunst zusammenarbeitete, die zumindest in ihrer belgischen Heimat ebenfalls einen Superstar-Status genießt. Für nicht schlafen besorgte sie das Bühnenbild: Die Bildhauerin, Zeichnerin und Installationskünstlerin Berlinde de Bruyckere beschäftigt sich in ihrem Werk mit der Verletzlichkeit von Mensch und Natur sowie dem menschlichen Bedürfnis nach Schutz, Wärme, Liebe und Verständnis, das oft auf eine Realität von Aggression, Schmerz und Angst trifft. Dass es da auch einmal brutale Bilder gibt, kann nicht überraschen.
Doch Brutalität kann, wie der Theaterzuschauer immer wieder erfährt, einhergehen mit großer Ästhetik. Pferdekadaver bilden die großartige Bühnenskulptur, die zwar grausam ist, aber doch höchst ästhetisierend arrangiert. Es wird auch nicht darauf getanzt, wie eine angewiderte Rezensentin beobachtet zu haben glaubte, sondern höchstens darauf gesessen. Das ästhetische Arrangement eines grausamen Bildes passt zu Platels Choreografie: Ergreifend zelebriert der Regisseur Unglück und Leid der Menschheit, und dabei bringt er die Schönheit des Schreckens auf die Bühne. Hässlichkeit wird zur Harmonie, ohne dass jemals das Hässliche unterschlagen wird. Bis weit über die Hälfte der Aufführung formuliert der Choreograf eine überzeugende, manchmal etwas pathetische Anklage. Nur: gegen was? Die ineinander verkeilten Kadaver, so schreibt die Dramaturgin Hildegard De Vuyst im Programmheft, spiegeln die Zerrissenheit, in der auch der Zuschauer sich befindet, wenn er sich diese Aufführung erklären will und sich fragt, welche Katastrophe sich hier abgespielt hat. „Spiegeln“ meint sie wörtlich: Unsere Spiegelneuronen, von denen wir bei unserer Geburt noch gar nicht wussten, dass wir sie hatten (sie wurden erst im Jahre 1992 entdeckt!), bewirken, dass wir auf fremden Schmerz genauso reagieren wie auf eigenen. Wer in De Bruyckeres Bühnen-Installation also unbedingt eine Provokation sehen will, verfügt möglicherweise über etwas zu ausgeprägte Spiegelneuronen.
Doch Schmerz hatten viele Zuschauer in der besuchten Aufführung empfunden, wenn auch vorrangig in anderen Szenen. In der unendlich langen Kampfszene zu Beginn beispielsweise, in der sich die Tänzer ineinander verkeilen wie die toten Pferde, und in der sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib reißen. Manche Besucher empfanden hier unbotmäßige Längen – nun, das dürfte gewollt sein: Der Schrecken endet eben nicht, wenn der Betrachter ihn nicht mehr aushält. Auch wenn er noch so schön dargestellt wird.
Alain Platel ließ sich bei seiner Arbeit an nicht schlafen von Philipp Bloms Text Der taumelnde Kontinent inspirieren – von einem Text, der das Taumeln Europas aus dem Glanz und der Dekadenz der Belle Epoque, in der Gustav Mahler lebte, in die politischen Wirren der Zeit vor dem 1. Weltkrieg und die Grausamkeiten des Krieges thematisiert. Blom spricht in seinem Text von „Europas zweitem dreißigjährigem Krieg“. Denn gab es je echten Frieden in den Jahren zwischen 1914 und 1945? Und gab es ihn danach? - Die Pferdekadaver scheinen ein kräftiges Symbol für die Grauen des 1. Weltkriegs zu sein, doch sie sind viel mehr. Den Düsseldorfer Theaterzuschauer erinnern sie an die Aufführung von Swetlana Alexijewitschs Der Krieg hat ein weibliches Gesicht aus Dezember 2012 – auch dort lag ein totes Pferd auf der Bühne, das aber dem zweiten Weltkrieg entstammte. Dem Freund der Bildenden Kunst fällt Picassos „Guernica“ ein, das die Folgen eines Luftangriffs aus dem Spanischen Bürgerkrieg zeigt. Und die grandiosen multiethnischen Tänzer, die Platel versammelt hat, die Farben der Wüste, in die seine Inszenierung getaucht ist, die Pygmäen-Songs und die polyfone afrikanische Musik, die er unter die Mahler-Motive aus nahezu allen Sinfonien des Komponisten schmuggelt, weisen wohl auf ein Thema unserer Zeit hin: auf den Kampf und das Leid der Flüchtlinge unserer Tage. Der Kontinent taumelt – wer will das heute noch bestreiten? Doch in Zeiten der Globalisierung auch der Politik taumelt nicht mehr nur Europa, sondern es taumelt die ganze Welt.
Vielleicht sollte das alles gar nicht so schön werden, wie der Rezensent die Aufführung in weiten Teilen empfunden hat. Großartig gelungen erscheint die dem Abend zugrundeliegende Komposition aus Mahler und afrikanischen Rhythmen – die Mixtur geht vor dem Hintergrund des vermuteten Anliegens des Choreografen hervorragend auf, und sie setzt wunderbare musikalische Kontrapunkte. Düster dräuende Atemgeräusche schlafender Tiere und sterbender Kreaturen mischen sich in den Soundtrack. Aber die wunderbare Mahler-Musik macht nicht nur süchtig, sondern sie glättet alle provokante Härte. Mit zunehmender Aufführungsdauer schleicht sich immer wieder Humor ein in die tänzerische und musikalische Darstellung. Und was dadurch passiert, kann eigentlich nicht gewollt sein. Es gibt Gekicher im Zuschauerraum. Die taumelnden Leidenden – auch eine Christusfigur wird angedeutet, so wie es viele religiöse Motive zu entdecken gibt – werden an das Kabarett verraten. Es gibt Peinliches: eine angedeutete Selbstbefriedigung am Pferdekadaver, ein von albernem Zungerausstrecken begleitetes Zücken eines Penis, was, wenn man denn an Flüchtlinge denkt, eine vollkommen verrutschte Assoziation an die sexuellen Belästigungen junger Frauen durch arabische Migranten hervorruft. Das wirkt etwas fragwürdig.
Denn lustig ist das nicht, was Platel uns zeigen will. Der jüngste der Tänzer, der wildeste, der vielleicht am meisten am Leben hängt, wird in einer langen, auch für den Zuschauer schmerzhaften Prozedur gequält, getötet und als Leiche durch den Raum geschleift. Doch am Ende wird er wieder tanzen - voller Vitalität und voller Lust. Alle Lust will Ewigkeit, zitieren Platel und sein Team ihren Hausheiligen Friedrich Nietzsche. Und wenn nicht alles täuscht, gibt es am Ende dieser vom Kampf und von viriler Maskulinität beherrschten Aufführung sogar ein liebendes Paar. Nicht Hass und Abscheu bewegt den Choreografen, sondern eine große, wenngleich schmerzende Liebe zum Menschen. Trotz mancher in die Comedy verrutschter Szenen bleibt unter dem Strich ein beeindruckender Abend.