Übrigens …

Der Fortschritt und seine Grenzen

Donaueschingen, das kleine, hübsche, traditionsreiche Städtchen vereint seit 1950 die Musikavantgarde. Sie alle waren hier und traten mit größtem Aplomb für die neue Sache ein: Henze und Xenakis, Boulez und Stockhausen, Sciarrino und Gubaidulina, Pärt und Rihm, Huber und Lachenmann, Schnebel und Kagel und…und…und – ein Mekka für Neutöner. Und ein Ort der Streitkultur. Denn was ist „alternativ“, was „innovativ“, was „völlig neu“ und was „ungehört“. Tage- und nächtelang wurde bei diesem Festival, das inzwischen an Ausstrahlung verloren hat, diskutiert. Und auch mal nur laut und inhaltsleer palavert. Der Band die innovation bleibt immer auf einem fleck vereint Texte, die die Donaueschinger Tage von Beginn an begleitet haben – im Diskurs, in der Kontroverse, im Bemühen, Theorie und Praxis für zeitgenössische Musik zu vereinen. In der Vielfalt der durchaus kritischen oder gar skeptischen Stimmen klingt das schwierige Ringen um den Zustand und den Bestand der Gegenwartsklänge respektvoll durch. Raum-Musik und Selbstspielinstrumente, Politik in der und durch die Musik sowie das Verleugnen von Ritualen, das Zurückgreifen auf die Musikgeschichte und der brutale Schnitt, nichts, was vorher war, für sich (und die eigene kompositorische Entwicklung) zu akzeptieren, die Rolle des Solisten und die Ensemblekultur, die In-Frage-Stellung der Tonalität und die „Masken der Musik“, Ästhetik und Ideale, Elektronik und der Blick auf die Nachbarschaftsgenres wie Film, Bildende Kunst und Literatur/Wort – da hat sich im Laufe von über 60 Jahren eine Menge an Vorschlägen, Rückblicken, Vorausfragen und Zukunftsfragen angesammelt.

Michael Lentz, Helga de la Motte-Haber, Rudolf Frisius, Max Nyffeler, Vinko Globokar, Jürgen Hocker, Reinhard Kager, Ulrich Dibelius und der Herausgeber selbst, Armin Köhler, lassen die Stationen von Donaueschingen in dieser Auswahl Revue passieren – als spannende Einführung, allerdings nicht für Laien, sondern für „Profi-Musiker“ und ihr heutiges Umfeld, und geben einen Überblick über die Positionen.

Dass Donaueschingen auch seit 1954 ein Hort progressiver Jazzmusik war/ist, hat sich bundesweit vielleicht noch nicht so deutlich herumgesprochen. Deshalb fällt dieser Abteilung in dieser Publikation eine besondere Herausstellung zu. Was für die „E-Musik“ gilt, gilt auch für Jazz und –Verwandtes: dass nämlich lebhaft gestritten wird um Wege in die Zukunft, um das, was bei diesem Festival gezielt gefördert wird. Lesenswert!

Köhler schreibt in einer Standortbestimmung über die „Hassliebe“, die dem Festival vor allem von denen entgegenschlägt, die nie eingeladen wurden – weil sie nur in der zweiten oder dritten Liga der aktuellen Musik schrieben. Diese Hassliebe wird andauern. Aber die Ambivalenz des Begriffes unterstellt ja, dass heutige Musik zu „lieben“ und zu „hassen“ ist. Durch Reibung entstehen neue Klänge!

Aber was ist schon „neu“?! Siehe oben.