Übrigens …

Who counts all the Counters?

Im Dezember wird es in der Kölner „Oper an Dom“ drei Konzertaufführungen von L’Atasterse von Leonardo Vinci geben. Um der originalen Besetzung mit Kastraten so nahe wie möglich zu kommen, werden für diese Parnassus Arts Production ausschließlich Countertenöre eingesetzt. Der Dirigent William Christie erinnert sich, dass bei einer Aufführung von Stefano Landis Il Sant‘ Alessio 2007 im Théâtre de Caen sogar acht solcher Sänger auf der Bühne standen. Mit den beiden für ihn besten, nämlich Philippe Jaroussky und Max Emanuel Cencic, arrangierte er vor einiger Zeit eine Konzerttournee mit anschließender CD-Aufnahme. „Duetti“ heißt sie und beruft sich mit diesem Titel auf die um 1700 außerordentlich beliebten „duetti da camera“. Formal bringen sie gegenüber den Standardformen nichts wirklich Neues, besondere Aufmerksamkeit richtet sich allerdings auf den kantablen und virtuosen Zusammenklang zweier oft gleichmäßig geführter Stimmen. Obwohl beide Interpreten mit unterschiedlichen Timbres aufwarten, braucht man als Hörer anfangs bei Giovanni Bononcinis „Pietoso nume arcier“ eine gewisse Zeit, sie auseinanderzuhalten, so verschmolzen klingen sie, die Koloraturen des Finalteils wirken nachgerade identisch. Cencic besitzt das etwas erdhaftere Organ, während Jaroussky eine nahezu überirdisch zarte „voce d’un angelo“ sein eigen nennt. Der Künstler hat in einem Interview gestanden, dass er sich mit seinem Singen vermutlich unbewusst einen Teil seiner Kindheit bewahrt.

Das hat der Dirigent Paavo Järvi offenbar so sehr fasziniert, dass er Philippe Jaroussky den Sopranpart in Gabriel Faurés Requiem übertrug (neben dem samtdunklen Bariton von Matthias Goerne). Das Orchestre de Paris spielt noch weitere Fauré-Werke. Die dreieinhalb Minuten des „Pie Jesu“ ergeben natürlich keine Jaroussky-CD, aber sie prägen die Aufnahme nachhaltig. Auch mit seinem erfolgreichen Recital „Opium“ (französische Lieder des 19. und 20. Jahrhunderts) hat der junge Counter sein Barockrepertoire ja entschieden erweitert und scheint gewillt, dies fortzusetzen. Damit geht er ähnliche Wege wie sein „alter“ Kollege Jochen Kowalski, der zwar nicht mehr so sehr im Rampenlicht steht, allerdings bei Cecilia Bartolis Salzburger Pfingst-Festspielen in Händels Giulio Cesare mitwirkte, wo Jaroussky als Sesto besetzt war. Zu dessen Repertoireausflügen gehört auch, dass er bei der CD „Los Pajaros Perdidos“ mitwirkte, auf welcher Christina Pluhar mit ihrem Ensemble „L’Arpeggiata“ (Barockinstrumente) Stücke aus Südamerika aufgenommen hat. Ihre Musik und auch die bei der Einspielung benutzten Instrumente wurzeln in barocker Vergangenheit. Freilich wird dies eher durch den fundierten Booklet-Text vermittelt als durch die Werke selber, die doch sehr heutig anmuten. Philippe Jaroussky wirkt bei ihnen mit seiner sanften Stimme ein wenig fremd, aber er setzt reizvolle Kontraste beispielsweise zu der „Carmen“-haften Luciana Mancini.

Die enormen Erfolge des Counter-Singens in jüngerer Zeit hängen natürlich mit der Entwicklung der historischen Aufführungspraxis im Instrumentalbereich zusammen. Als Alfred Deller auf den Plan trat, war an die goldenen Zeiten von heute noch lange nicht zu denken. Inzwischen aber gibt es bereits ganze CD-Anthologien, welche versuchen, den Gesang der Kastraten durch die Gegenüberstellung heutiger Counterstimmen so sinnfällig wie möglich zu suggerieren ( „La Légende des Castrats“, „Angel Voices - The Magic of Castrati“, „The World oft the Castrati - The Voice of Angels“). Denn selbst der letzte noch aktive Kastrat, Alessandro Moreschi, vermag mit seinen zwischen 1902 und 1904 entstandenen Aufnahmen, die ein ziemlich greinendes Timbre offerieren, bestenfalls Andeutungen einer vergangenen Glorie zu vermitteln.

An dieser Stelle nur noch zwei Counter-Namen. Sowohl Bejun Mehta als auch Valer Barna-Sabadus sind im Barockrepertoire heimisch, doch auch sie experimentieren gerne. Mehta machte bereits als Knabe Aufnahmen von Liedern aus der Feder von Händel, Schubert, Britten und Brahms (1983). Kürzlich folgte er mit einer Kollektion „20th Century English Songs“. Bei den Liedern von Purcell bis Herbert Howells handelt es sich um Salonstücke im besten Sinne, die aber formal nicht unbedingt analysiert werden müssen und deren Wirkung in besonderem Maße vom Reiz einer charakteristischen Stimme lebt. Bejun Mehta wirkt androgyn, besitzt aber mehr maskuline Kraft freilich als der immer knabenhafte Jaroussky. Seine feinsinnig interpretierten Gesänge bieten vokale Verzauberung pur. Zu ihr trägt auch das geschmeidige Klavierspiel von Julius Drake bei. Über die Zusammenhänge von Knaben- und Counterstimme wäre im Übrigen mal ein eigenes Kapitel zu schreiben. Eine Counter-Paradepartie aus dem Bereich der Oper, diesmal der zeitgenössischen, ist Oberon in Benjamin Brittens A Midsummer Night’s Dream. Der Komponist schrieb die Rolle für Alfred Deller. 2006 verkörperte sie auch Bejun Mehta; der Mitschnitt vom Glyndebourne Festival kam erst vor einiger Zeit heraus. Während Deller, der seine Karriere erst im reiferen Alter machte, immer etwas kunstvoll-neutral wirkt (was dann bei Paul Esswood fast schon unangenehm zu Buche schlägt), besitzt Mehtas Stimme ein gehöriges Potential an Erotik, sicher mit bedingt durch den Einsatz von Vibrato, eine Interpretationsweise, die historisch vielleicht nicht ganz „korrekt“ ist, für die ein Jochen Kowalski aber überzeugend die Wege ebnete. Auch Bejun Mehta bewegt sich auf dieser Spur, und so besitzen die Oberon-Szenen einen ganz eigenen Zauber, der fast schon ins Irreale reicht.

Zu den Newcomern im Counterfach gehört der 1986 in Rumänien geborene, aber früh in Deutschland ausgebildete Valer Barna-Sabadus. Um auch bei ihm mit „Seitensprüngen“ zu beginnen… Auf der CD „Orient meets Occident“ wird die Türkenmode des Barockzeitalters faszinierend lebendig gemacht. Das Pera Ensemble, eine mit türkischen Instrumenten durchsetzte Formation für historische Aufführungspraxis, fegt wie ein Wirbelwind durch das Programm, eine Mischung aus europäischer und osmanischer Musik. Die Wechselwirkung der Kulturen wird - wissenschaftlich fundiert, interpretatorisch überbordend - auf höchst vergnügliche und sinnliche Weise vermittelt. Die in der Mittellage besonders tragfähige Stimme des jungen Counters, die aber auch in extremer Höhe frei und locker klingt (Händels „Delirio amoroso“) und jede auch noch so anspruchsvolle Koloratur nahezu schwerelos und elegant bewältigt (Arie aus Nicola Porporas Semiramide Riconosciuta) bleibt dabei stilistisch korrekt. Aber in viele Instrumentalbegleitungen ist ein „a la turca“ eingearbeitet, wie es beispielsweise Lully in seinem Bourgeois gentilhomme nachzuahmen liebte. Man hört auch original türkische Werke aus der Barockzeit und gewinnt dabei Einblicke in eine kaum bekannte musikalische Tradition. Die ganze CD hebt dank des leidenschaftlichen Musizierens den Hörer förmlich vom Sitz, die percussive Vitalität vieler Arrangement lädt regelrecht zum Tanzen ein. Die ein Jahr zuvor (2010) aufgenommene CD „Baroque Oriental“ verfolgt die gleiche Dramaturgie, das Programm ist freilich noch etwas exotischer gefärbt, u.a. bei „Türki Beray“, wo Valer Barna-Sabadus neuerlich durch sichere Höhe frappiert. Ansonsten wird ausreichend Gelegenheit gegeben, seine enorme Belcanto-Kultur und sein erotisches, mitunter fast laszives Timbre zu bestaunen.

Seine Einspielung von Pergolesis Stabat Mater könnte man ohne weiteres den „Duetti“ von Jaroussky/Cencic an die Seite stellen, denn auch bei diesem Werk geht es um ein vokales Miteinander, wenn auch anders geartet. Valer Barna-Sabadus vertritt bei dieser von Michael Hofstetter kompetent dirigierten Aufnahme die Sopran-Tessitura neben dem mehr mezzogeprägten Terry Wey. Doch ist der Stimmumfang bei Countersängern unterschiedlich dehnbar. Das Volumen der Kastraten erreichen sie freilich nicht. Insofern sind Aufnahmen immer nur Annäherungen an eine historische Singkunst, die - wie man weiß - mit grausamen Mitteln erkauft wurde.

Eine CD mit Werken von Johann Adolph Hasse machte Valer Barna-Sabadus über seine Bühnenauftritte hinaus bekannt und wurde hoch prämiert. Kein Wunder, denn die Stimme des jungen Sängers mit ihrem attraktiven Timbre wirkt ungemein ausgeglichen, trägt sowohl in der Tiefe als auch in der Höhe. In der Kantate La Gelosia wird sogar ein hohes C sicher bewältigt, auch wenn dieser Bereich als eine vokal erkämpfte Randzone erkennbar bleibt. Stilistisch ist alles ohne Fehl und Tadel. Das Energievolle der Gestaltung wie auch der barocktypische Lamento-Ausdruck erfährt durch die hervorragende Hofkapelle München unter Michael Hofstetter volle Unterstützung. 26 Jahre jung ist Valer Barna-Sabadus. Da dürfte noch Einiges kommen.

Das Reservoire an Countertenören ist wesentlich größer, als es die hier berücksichtigten CD-Porträts vermitteln können. Man braucht sich nur mal bei Youtube umzutun. Dort sind auch Aufnahmen mit dem etwa 30jährigen Australier David Hansen zu finden, in dessen Counter-Gesang die brustige Klangfarbe einer Marilyn Horne eingefangen scheint. Das klingt wie glühende Lava. Eine persönliche Empfehlung des Autors dieser Zeilen.

 

Philippe Jaroussky

Duetti (mit Max Emanuel Cencic) - Virgin 50999 0709432 3

Gabriel Fauré: Requiem - Virgin 50999 070921 2

Los Pajaros Perdodos - Virgin 50999 6785162 1

 

Bejun Mehta

20th Century English Songs - Harmonia Mundi HMC 902093

A Midsummer Night’s Dream - Glyndebourne GFOCD 013-06

 

Valer Barna-Sabadus

Pergolesi: Stabat Mater (mit Terry Wey) - Oehms OC 831

Hasse reloaded - Oehms OC 830

Baroque Oriental - Berlin Classics 0300 275 BC

Orient meets Occident - Berlin Classics 0300 400 BC