Französische Oper - Ein Querschnitt durch aktuelle Aufnahmen
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass aus dem Opernoeuvre von Hector Berlioz ausgerechnet jenes Werk am populärsten wurde, welches ursprünglich gar nicht für die Bühne bestimmt war. Die Komik von Béatrice et Bénédict wie auch Benvenuto Cellini wirkt intellektuell ein wenig beschwert, und die Troyens mit ihren gigantischen Ausmaßen stellen Theater alleine vor quantitative Bewältigungsprobleme. La Damnation de Faust mit lediglich drei Protagonisten (Brander ist eine Episodenfigur) lässt sich von der Besetzung her also relativ leicht organisieren (die Faust-Partie verlangt freilich einen Ausnahmesänger). Über eine angemessene Goethe-Nähe bzw. -Ferne kann man bei dieser „dramatischen Legende“ natürlich ebenso diskutieren wie bei Gounods Faust oder Boitos Mefistofele. Berlioz sowie seine Co-Librettisten Gandonarière und Nerval erlauben sich erzählerische Abschweifungen, belassen Faust aber die Umrisse eines Philosophen, Weltforschers. Die Musik versieht die Story mit starken koloristischen, bisweilen bizarren Farben - eine opéra fantastique gewissermaßen.
Die Handlung legt auf psychologische Folgerichtigkeit nur wenig Wert, reiht vielmehr Episoden tableauartig aneinander, was einem Regisseur viele schöpferische Freiheiten gewährt. Zu den tiefschürfendsten Inszenierungen des Werkes gehört sicher eine Arbeit von Harry Kupfer vor etwa anderthalb Jahrzehnten in Köln. Der Hinweis deswegen, weil zwei der damaligen Protagonisten (Beatrice Uria-Monzon, David Kuebler) die gleichen sind wie bei der Konzertaufführung vom März 1996 im Man Auditorium von Tel-Aviv, die jetzt neben weiteren Mitschnitten vom Israel Philharmonic Orchestra zum 75. Geburtstag des Klangkörpers veröffentlicht wurde. Gary Bertini, sein langjähriger Chef, war in der achtziger Jahren auch Leiter des Kölner WDR-Sinfonieorchesters - weiterer Köln-Bezug der vorliegenden Aufnahme. Obwohl Bertini an vielen renommierten Theatern dirigiert hat, verbindet man mit seinem Namen Opernwerke eigentlich nur wenig. Immerhin gibt es (noch) eine Rossini-Italiana in Algeri von 1979, Ariane et Barbe-Bleue von Paul Dukas aus dem WDR-Studio, einen Pariser DVD-Mitschnitt von Prokofjews Krieg und Frieden; die phonografische Wiederentdeckung von Die drei Pintos (Weber/Mahler) ist leider vergriffen. Bei Berlioz agiert Bertini als Vollblutmusiker, der instinktiv um die angemessene Platzierung dramatischer Affekte und Effekte weiß. Der Ungarische Marsch explodiert förmlich, Faust’s Höllenfahrt lässt einen schaudern. Solche Wirkung verdankt sich wesentlich auch dem fabelhaften Orchester und dem grandiosen Tanssylvania State Philharmonic Choir aus Cluj.
David Kuebler war in seinen Kölner Jahren anfangs auf das Mozart- und Rossini-Fach festgelegt. Seine wirklich „große“ Zeit begann, als er Zwischenfach-Partien zu übernehmen begann (darunter auch der Faust). In das Timbre muss man sich vielleicht ein wenig hinein hören, doch rasch bezwingt Kueblers Singen durch Stil und Ausdruck. Und die Höhenpotenz seiner Stimme sucht ihresgleichen. Beatrice Uria-Monzon bezwingt mit einem mädchenhaft-fraulichen, passionierten Porträt der Marguérite, Franz Grundhebers singschauspielerische Fähigkeiten finden in der Partie des Méphistophélès weiten Auslauf. Nur an wenigen Stellen verrät sich der Livecharakter der Aufnahme. Bonus der 2-CD-Edition: Maurice Ravels Daphnis et Chloé von 1974. Hier übernahm der Israel Chamber Choir den vokalen Part.
Der Komponist Francis Poulenc durchlief ein wild bewegtes Leben, privat (u.a. als wohl erster bekennender Homosexueller in seiner Branche) wie auch als Künstler. Als Mitglied der Groupe de Six schwor er dem Impressionismus vehement ab, ließ sich zudem stark von unterhaltender Musik beeinflussen (prototypisch das Lied Les chemins de l’amour, u.a. gerne von Felicity Lott gesungen). Die Opernfarce Les mamelles de Tiresias entstanden zwar noch vor seinem Übertritt zum Katholizismus (1936), ist aber doch noch eine Reminiszenz an die Aufbruchsjahre. Poulencs Bühnenschaffen wird von dem Monodrama La voix humaine abgeschlossen (attraktiv für große Sängerdarstellerinnen, als deren erste übrigens Maria Callas vorgesehen war). Sein szenisches Hauptwerk jedoch sind die Dialogues des Carmélites, welche auf dem gleichnamigen Drama von Georges Bernanos basieren, für das wiederum die Novelle Die Letzte am Schafott von Gertrud von Le Fort Stofflieferant war. In Deutschland benutzt man gelegentlich den (durchaus stimmigen) Titel Die begnadete Angst. Das Original betont die Dominanz des Wortes bei Reduktion dramatischer Verläufe. Das trifft auch auf die Oper von Poulenc zu. Dennoch gibt es, u.a. mit dem Tod der alten Priorin und dem Hinrichtungs-Finale, so manche szenische Hochspannung. Die existenzielle Angst der jungen Blanche, die auch durch ihren Eintritt in das Carmel-Kloster nicht bewältigt wird, zieht sich wie ein roter Faden durch das Geschehen. Zuletzt bekennt sie sich aber doch zu ihren von der Französischen Revolution zum Tode verurteilten Schwestern und besteigt als Letzte singend das Podest der Guillotine. Das ist ungemein schwere Gefühlskost, wobei von der Musik aber kein falscher Zungenschlag kommt. Ihr über weite Strecken psalmodierender Stil ähnelt fast einem Gottesdienst. Dass Anja Silja, welche die alte Priorin in ihr spätes Repertoire aufgenommen hat, über dieser Rollenaneignung zum Katholizismus gefunden hat, nimmt also eigentlich nicht wunder. Poulencs Tonsprache wirkt durchaus modern, auch wenn sie sich grundsätzlich (fast anachronistisch) der Dur-Moll-Harmonik versichert. Beim „Best of“-Zusammenschnitt von Aufführungen der Jahre 2008 und 2011 im Theater an der Wien kommt das ORF Radio-Symphonieorchester unter Bertrand de Billy den sublimen Klanganforderungen der Partitur bestechend nach. In dem von Frauenstimmen dominierten Ensemble wirken Michelle Breedt als Mère Marie und Hendrickje van Kerckhove als muntere Soeur Constance vokalphysiognomisch am überzeugendsten. Der Blanche von Sally Matthews fehlt es bei allem Sopranwohlklang doch etwas an Jugendlichkeit, der Madame Lidoine von Heidi Brunner an Persönlichkeitsprofil, der alten Priorin von Deborah Polaski an stimmiger Altersfarbe. Rita Gorr war in ihrer späten Karriere in dieser Partie ungemein überzeugend, und die Vorstellung, dass Martha Mödl… Dennoch ist die Aufnahme ein wichtiger Repertoirezuwachs, liegt die letzte Einspielung (unter Kent Nagano) doch inzwischen 30 Jahre zurück.
Von den Bühnenwerken Jules Massenets hat Werther das frühere chef d‘oeuvre Manon offenkundig überrundet. Die spät erkannte Liebe zwischen zwei reifen Menschen wirkt in ihrer Tragik emotional wohl doch zwingender als die fast noch pubertären Gefühle der Manon-Protagonisten. Im laufenden Jahr addiert sich zum runden Uraufführungs-Datum (1892) zudem das Gedenken an den Tod des Komponisten vor einem Jahrhundert. Nahezu alle Tenöre von Rang haben sich die Werther-Figur zu eigen gemacht, in der jüngeren Vergangenheit José Carreras, Placido Domingo, Alfredo Kraus und Luciano Pavarotti. Als legitimer Nachfolger wird vermutlich Rolando Villazon angesehen, der nicht zuletzt durch seine häufige Partnerschaft mit Anna Netrebko in die tenorale Top-Liga aufgestiegen ist. Die letzten Jahre waren freilich überschattet von Krisen, welche man gerne als Resultat eines Zu-Viel-Singens, auch einer unvorsichtigen Facherweiterung bilanziert. Zu Beginn der Covent-Garden-Aufführung des Werther (5/2011) gerät man förmlich ins Schwitzen über Villazons gestressten, gepressten, höhenengen, lyrisch in keiner Weise ausformulierten Gesang. Das ändert sich in der Folge, so dass man die Krisenmomente der Einsingphase zuzuschreiben gewillt ist. Doch ungeachtet gestalterischer Höhepunkte verbleibt der Hörerin einem Bangen. Und ob Villazon über eine genuine Werther-Stimme verfügt, darüber kann man ohnehin geteilter Meinung sein. Da braucht man bei Youtube nur in die Bastille-Aufführung der Benoit-Jacquot-Inszenierung (2010) hineinschauen, die (im Booklet nicht erwähnt) für London lediglich übernommen wurde. Jonas Kaufmann in der Titelpartie ist wahrlich konkurrenzlos. Sophie Koch als Charlotte überzeugt auch in London, weiß die Gefühlsstationen einer in Etikette befangenen Frau dringlich zu machen und ausdrucksvoll mit Schöngesang zu verbinden. Das hat auch viel mit Antonio Pappano zu tun, der die Schwingungen der Musik seismografisch aufspürt und umsetzt. Die mittleren Partien sind angemessen, aber nicht spektakulär besetzt (Sophie: Eri Nakamura, Albert: Audun Iversen). In summa: eine Aufnahme mit Detailqualitäten, aber ohne durchgängige Hochform.
Berlioz-Abrundung. Der hier angezeigte Scala-Mitschnitt der Troyens von Hector Berlioz stellt eine markante Wegemarke in der steinigen Rezeption dieser monumentalen Oper dar. Nicht nur die Länge des Werkes, auch die qualitativ unterschiedliche Einstufung der beiden Teile (Akt 1-2 La Prise de Troie, Akt 3-5 Les Troyens à Carthage) hatten zur Folge, dass diese oft einzeln gegeben wurden (ein später phonografischer Reflex ist die fragmentarische Einspielung Hermann Scherchens 1952). 1913 wurden in Stuttgart die Troyens kompakt gegeben, eine Aufteilung auf zwei Abende hatte aber bereits in Mannheim 1890 (unter Felix Mottl) stattgefunden, was vor einigen Spielzeiten auch von der Deutschen Oper am Rhein durchaus sinnvoll aufgegriffen wurde. Heute ist man, auch infolge der Popularisierung von Wagners Ring, grundsätzlich andere Anstrengungen gewohnt und genießt sie wohl auch lustvoll. Die ersten wirklich „vollständigen“ Aufführungen der Troyens (zu denen die Mailänder Produktion gehört - zuvor realisierte Rafael Kubelik das Werk 1957 auch an Covent Garden) konnten freilich noch nicht auf die kritische Edition des Werkes zurückgreifen. Sie wurde 1969 erstmals in Glasgow und - wiederum - Covent Garden realisiert. Auf letzterer beruht die epochale Colin-Davis-Einspielung bei Philips. Sie benötigt vier CDs, während die Mailänder Aufführung auf zweieinhalb CDs Platz findet (ergänzt durch Boni von Mario del Monaco, ohne Angabe von Dirigent und Aufnahmedatum). Immerhin bekommt man eine Ahnung von dem dramatischen Sturmwind des außerordentlichen Werkes, eine Formulierung, die keineswegs alleine auf die Instrumental-Szene „Chasse royal“ anspielt, vielmehr auf die leidenschaftliche, ausdrucksgesättigte Interpretation durch Kubelik. Dass an der Scala italienisch gesungen wurde, fällt nicht wirklich negativ ins Gewicht. An den anfangs etwas beengt wirkenden Klang des Mailänder Mitschnitts gewöhnt man sich rasch, auch wenn eine raumakustisch optimale Realisation (welche ja auch das Oeuvre Mahlers begünstigte) grundsätzlich von Bedeutung sein dürfte. Das Scala-Publikum reagiert auf seine Weise: Beifall meist zögerlich, aber meist in die Musik hinein. Große Sympathiekundgebungen für Giulietta Simionato, die wirklich ein gleichermaßen schönstimmiges wie gefühlsbrennendes Porträt der Dido zeichnet. Die größte Begeisterung zieht freilich Mario Del Monaco auf sich. Für den „Helden“ Aeneas ist sein heroischer Tenor fraglos ideal. Der Liebesszene bleibt er an artikulatorischer Eleganz freilich Einiges schuldig. Bei seiner großen Szene lässt er das hohe C weg, badet sich dafür effektvoll in den „Wälserufen“ seiner Partie. Im weiteren Ensemble bekannte Namen wie Fiorenza Cossotto (Ascanio) und Nicola Zaccaria (Narbal). Besonders eindrücklich profilieren sich Adriana Lazzarini (Anna) und Piero Die Palma, der ewig „Zweite“ (Hylas). Last not least: Nell Rankin mit einer klangvollen, nicht hochdramatisch überzeichneten Cassandra.
Christoph Zimmermann
Bezugshinweise:
Berlioz: La Damnation de Faust
Helicon 02-9648 (c/o Harmonia Mundi)
Poulenc: Les Dialogues des Carmélites
Oehms OC 931
Massenet: Werther
DG 477 9340
Berlioz: Les Troyens
Walhall 0347