Heinz Wagners „Handbuch der Oper“ in Neuauflage
Opernführer gibt es unzählige - mit unterschiedlichem Anspruch. Eine Version für den Hausgebrauch (keine abschätzige Formulierung) bietet seit jeher der Reclam-Verlag. Piper hat eine „Enzyklopädie des Musiktheaters“ herausgebracht: eingehende Werkanalysen, gefolgt von rezeptionsgeschichtlichen Hinweisen. Ulrich Schreibers „Opernführer für Fortgeschrittene“ lässt bereits durch seinen Titel erkennen, an wen sich die mehrteilige Edition wendet. Dann gibt es auch noch Spezialwerke wie die Bücher von Sigrid Neef über die Oper in der Sowjetunion oder der DDR. Antiquariatsfreunde verfügen vielleicht zusätzlich über historische Opernführer. Der Verfasser dieser Zeilen ist u.a. im Besitz eines „Scholtzes Opernführer“, der gerade noch Straussens Feuersnot berücksichtigt, also um die vorige Jahrhundertwende erschienen sein muss. Ein Äquivalent von Ferdinand Strantz hat mit dem Erscheinungsjahr 1931 zwar einige Titel aus dem Scholtze-Repertoire eliminiert. Andererseits kann es bereits mit Fremde Erde von Karol Rathaus aufwarten, zählt aber auch noch Hermann Zumpes Sawitri zu den „Opern des deutschen Spielplans“. Die Zeit hat beide Bücher natürlich vergilben lassen, und der heutige Barock-Boom war damals noch nicht in Sicht.
Etliche der Scholtze/Strantz-Titel tauchen im „Großen Handbuch der Oper“ von Heinz Wagner erstaunlicherweise noch auf. Das bedeutet aber wohl kaum eine aktuelle Repertoire-Empfehlung, sondern ist Ergebnis einer außerordentlichen Sammlerleidenschaft. Wagner, Jahrgang 1919 (also schon ein alter Herr, wenn das salopp gesagt werden darf), arbeitet(e) hauptberuflich als Mediziner, mit Herzblut aber als Opernfan. 1987 brachte er im Verlag Heinrichshofen seinen Opernführer in Erstauflage heraus. Ob das Register (Stimmlage, Arten der Opern, Besetzung von Opern-Orchestern, Instrumentenkunde, Fachwörterverzeichnis) auch eine Übernahme darstellt, wäre bei Bedarf nachzuprüfen. Die 5. Auflage von 2011 wartet auf 1780 dünnen Seiten hingegen mit Abbildungen von Komponisten auf (eine verlagstechnische Fleißarbeit), mit Registern der Komponisten, Textautoren und Bühnenwerken, bietet weiterhin eine Städte-Chronologie der Uraufführungen. In den früheren Ausgaben wurden die Komponisten epochenchronologisch geordnet, der jetzige Wechsel zum alphabetischen System bedeutet lexikalischen Vorteil.
Wagners neuer Opernführer berücksichtigt - bei offenbar besonderer Durchforstung der Produktionen bei der Münchner Biennale - auch ganz aktuelle Werke wie Detlev Glanerts Holzschiff, Georg Graewes Barbara Strozzi oder Kaija Saariahos Émilie, um nur Uraufführungen des Jahres 2010 zu nennen. Was an historischen Titeln fehlt, ist natürlich kaum dingfest zu machen. Beim ersten Blättern fällt immerhin die Auslassung von Alfred Bruneaus L‘attaque au moulin auf. Leonardo Vincis L’Ataserse (demnächst bei einer Konzerttournee mit einer durch Philippe Jaroussky angeführten Riege von Countertenören zu hören) wird nicht erwähnt, wohl aber andere Werke des Komponisten. Die vor kurzem in Maribor wiederaufgeführte Oper Die Masken (1928) von Marij Kogoj findet gleichfalls keine Erwähnung, auch nicht Harald Banters 1999 in Hagen uraufgeführter Blauer Vogel.
Aber die Aufzählung dieser Beispiele will weder Kritik noch Besserwisserei sein. Heinz Wagners Buch verdient jedes erdenkliche Lob. Dass sich der Autor auf Inhaltsangaben und Aufführungsdaten beschränkt, geht übrigens in Ordnung. Bei vielen Werken wäre es ja kaum möglich gewesen, sich per Partitur, Klavierauszug oder anderem Material ein triftiges Eigenbild zu verschaffen.
Dramaturgisch gibt es jedoch kritische Fragen zu stellen. Die Genrebezeichnung „Oper“ ist zumindest für das Schaffen der Vergangenheit festgelegt. Bei Jacques Offenbach kommt man zwar etwas ins Schwimmen zwischen Operette und Opéra bouffe. Johann Strauß hat mit Ritter Pázmán und Simplicius zwar erklärtermaßen Opern geschrieben, aber das ist wohl doch mehr Behauptung als Realität. Ähnliches gilt auch für Die Rosen der Madonna von Robert Stolz u.a.. Bei Eduard Künneke ist die Erwähnung von Robins Ende korrekt. Das Dorf ohne Glocke und Die lockende Flamme werden vom Komponisten allerdings als Singspiel bezeichnet und sind deswegen aber noch lange keine Opern. Einige Titel überschneiden sich ja auch mit dem Operettenbuch Heinz Wagners (Partha-Verlag 1997). Und nicht immer wird wie im Falle des Goldschmieds von Toledo unmissverständlich ersichtlich, dass es sich um eine posthume Bearbeitung (Pasticcio) und nicht um ein Original handelt. Doch sei dies der „Großzügigkeit“ des arbeitswütigen Heinz Wagners nachgesehen. Ob es irgendwann noch eine 6. Auflage geben wird?