Schatzkiste
Die CD-Dokumente des Klavierfestivals Ruhr genießen bei den Musikfreunden (und erst recht bei den Piano-Freaks) längst Kultstatus, geben sie doch nicht nur besondere künstlerische Eindrücke der Pianisten-Stafette wieder, sondern werden gehandelt und gewertet als Erinnerungs- und Gedächtniskultur für Newcomer, für Repertoire-Schätze und für ein klavieristisches Vermächtnis von Bekanntem und Unbekanntem. Heißt in diesem Fall: Bei der Edition 2011/12 (3 CD) mit Igor Levit, Benjamin Moser, Denis Kozhukhin, Anthony & Joseph Paratore, Kit Armstrong, Adrian Brendel (Cello) Andrea Lucchesini, Irina & Marina (Sopran) Prudenskaja, Tamara Stefanovich, Boris Giltburg und Siegfried Mauser, die Werke von Franz Liszt und Neue Musik interpretieren, werden genau die eingangs genannten Parameter erfüllt. Heißt auch: Es geht ungemein spannend und abwechslungsreich zu beim Hören und Erleben dieser beispielhaften Aufnahmen.
Allein diese Kassette umfasst rund 25 Werke von Liszt (Schwerpunkt zum 200. Geburtstag), Wagner, Dieter Schnebel, Olav Lervik, Vassos Nicolaou u. a. Unmöglich also, jede einzelne Interpretation zu besprechen. Da ich etliche Konzerte, deren Mitschnitte nun für alle „offen“ sind, gehört habe, kann man umfassend Franz-Xaver Ohnesorg als Festivalchef gratulieren: Denn alle Solisten (auch die Nicht-Pianisten) und alle Kompositionen (gerade die von Zeitgenossen) überzeugten – durch virtuose Gespanntheit, durch Leidenschaft, durch ein nach außen gekehrtes Binnenverhältnis zu den Stücken, durch Kompetenz selbst beim experimentellen Ausbruch aus dem Gängigen und durch ein in der Regel uneitles Gespür für Wichtiges, für das scheinbar Nebensächliche und das Anrührende ohne kitschigen Akzent, der bei dem tragischen Superstar Franz Liszt durchaus möglich wäre. Nein, dieser Tasten-Titan wird von den jungen Leuten ernst genommen, er wird nicht zelebriert, sondern man hört intensiv hinein in die oft gewaltige Architektur der Akkorde und Läufe, der Triller und Koloraturen, des melodischen Materials, das zunächst grandios aufgelöst und dann wieder genial gekittet wird. Beispiele gefällig? Levits Hexameron-Variationen, Mosers Funerailles oder Kozhukhins Harmonies poetiques. Besser, „moderner“ und kühner kann man das Thema Liszt heutzutage kaum angehen.
Bei der Musik der Gegenwart müssen zumindest Schnebels h-moll-Sonate (UA, Auftragswerk zum 80. Geburtstag), von Mauser so effektvoll wie affektgeladen präsentiert, fast schon im Stil einer Neo-Klassik gehalten, und die kurzen, witzigen, unterhaltsamen und munteren US-Traditionszitate von Nicolaou (Jahrgang 1971), rasant und perfekt vorgetragen von Tamara Stefanovich, als nachhaltige Begegnungen angeführt werden.
Die Edition des Klavierfestivals umfasst seit 1997 inzwischen 27 Ausgaben mit etwa 80 CDs: eine großartige und ambitionierte Bilanz, die sicher weiter geführt wird, weiter geführt werden muss! Da dürften noch viele Entdeckungen gemacht werden, sowohl bei den Könnern auf den schwarzweißen Tasten wie auch bei den Partiturschöpfern aus Geschichte und Gegenwart. Dieses heutige „Entdecken“ lohnt fast immer.