Übrigens …

Vernachlässigtes Genre

„Die schönsten deutschen Opern“ heißt eine mit zehn CDs größentypische Edition des Labels „Documents“. Der niedrige Preis lässt verstehen, dass die „Innenausstattung“ der Kassette bescheiden ausgefallen ist. Die einzelnen CDs stecken in Papphüllen (das ist auch anderswo Standard), vorderseitig mit der Besetzungsangabe, rückseitig mit der Trackaufteilung beschriftet. Dass es sich bei den ausgewählten Werken um das Genre der „komischen Oper“ bzw. „Spieloper“ handelt, hätte ruhig deutlicher gemacht werden dürfen. Es ist davon auszugehen, dass dem Vol. 1 irgendwann eine Fortsetzung folgt, sonst nämlich wäre das Fehlen einiger Werke zu kritisieren. So aber stehen wohl beispielsweise noch Der Barbier von Bagdad (Peter Cornelius), Der Corregidor (Hugo Wolf) und möglicherweise auch - da nachweislich eine Rundfunkaufnahme existiert - Versiegelt von Leo Blech zu erwarten.

Der Spieloper wirft man gerne Biedermeierlichkeit vor. „Große“ Themen werden bei ihr in der Tat nicht abgehandelt, meist geht es um menschlich-allzu menschliche Begebenheiten im bürgerlichem Umfeld, um heitere Lebensepisoden, wo etwaige Konflikte stets mit einem Happy End abschlossen werden. Das gibt für ambitionierte Regieinterpretationen natürlich auf den ersten Blick nicht viel her. Doch sollte es eigentlich reizvoll sein, historisch gewordene Gegebenheiten in ein neues Licht zu rücken, auf den heutigen Way of Life zu projizieren, sinnvollerweise mit Mitteln der Ironie, die aber angemessen dosiert sein sollten.

Die Documents-Kassette regt zu diesbezüglichen Überlegungen nicht gezielt an. Allerdings erinnert die 1956 beim Norddeutschen Rundfunk entstandene Aufnahme des Wildschütz (Albert Lortzing) daran, dass sie auch der Soundtrack einer frühen Opern-Fernsehverfilmung war. Herbert Junkers, auf dem CD-Cover als verantwortlich für Dialogbearbeitung und Regie angegeben, war in den 50er, 60er Jahren ein Garant für hohen Anspruch bei solchen Unternehmungen. Der Rezensent hat sogar noch Szenenfotos dieser Produktion vor Augen, wobei sich in der Erinnerung allerdings der Baculus von Adolf Meyer-Bremen verankert hat, während die CD-Veröffentlichung eindeutig Walter Berry (mächtig bei Stimme und sehr komödiantisch) offeriert. Diese kleine Diskrepanz soll an dieser Stelle aber kein Thema sein.

Der Wildschütz präsentiert führende Sänger der damaligen Jahre. Horst Günter, später Lehrer unter anderem von Thomas Hampson, ist mit seinem chevaleresken Bariton ein rollendeckender Graf Eberbach (der Sänger starb mit 99 Jahren am 7. Januar 2013). Die Baronin Freimann verkörpert Anneliese Rothenberger. Seinerzeit an der Hamburgischen Staatsoper engagiert, hat sie unzählige Aufnahmen beim NDR gemacht, nicht zuletzt im Bereich der Operette. Sieben Jahre später wiederholte sie die Lortzing-Partie bei der klassischen EMI-Einspielung unter Robert Heger. Hier war Fritz Wunderlich der Baron Kronthal, während die NDR-Einspielung den nur mittelmäßigen Edwin Beiler aufbieten kann. Die leicht affektierte Noblesse der Gräfin Eberbach hat unter Heger Gisela Litz unnachahmlich gestaltet, aber Ursula Zollenkopf kommt ihr sehr nahe. Über diese Künstlerin ist fast nichts bekannt, es gibt nicht einmal einen Eintrag im Sängerlexikon Kutsch/Riemens. Alten Rundfunkhörern ist der Name allerdings vertraut, man assoziiert ihn unter anderem mit Bach-Kantaten, die unter Max Thurn beim NDR entstanden. Eine Suche im Internet führt mehrfach auf eine Einspielung von Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie, die unter Franz Konwitschny am Leipziger Rundfunk entstand. Hier hört man die Altistin im Kreise von DDR-Sängern wie Ingeborg Wenglor, Hans-Joachim Rotzsch und Theo Adam.

Last not least im Wildschütz-Ensemble: das Gretchen der liebenswerten Rosl Schwaiger. Durch ihr etwas herbes Timbre ist sie dem Soubretten-Klischee von vorneherein entzogen. Erfolgreich war die Künstlerin unter anderem bei den Salzburger Festspielen, dann bis zuletzt am Münchner Gärtnerplatz-Theater. Sie ist auch als Anna in den Lustigen Weibern von Windsor (Otto Nicolai) zu hören, ebenfalls 1956 am Hamburger Sender entstanden. Und auch hier leitet Wilhelm Schüchter das Hamburger Rundfunkorchester durch lauter schöne Musik. Schüchter war seinerzeit eine Art Super-Maestro in Sachen Oper vor allem bei der EMI. Viele Querschnitte und Einzelaufnahmen (unter anderem mit Rudolf Schock und Josef Metternich) entstanden unter seiner kompetenten Stabführung. Der etwas verhangene Bass des Niederländers Arnold van Mill prägt individuell den Falstaff, Walter Berry (oben als Baculus erwähnt) ist jetzt als Herr Reich zu hören. Wiener Importe sind Hilde Rössel-Majdan (Frau Reich) und Karl Terkal (Fenton) ebenso wie Wilma Lipp (Frau Fluth). Sie hatte als Mozarts Königin der Nacht bereits als Mittzwanzigerin Furore gemacht (zum Beispiel unter Wilhelm Furtwängler), wechselte dann ins lyrische Fach und wurde noch in den 80er Jahren von Herbert von Karajan als Leitmetzerin in seinem Salzburger Rosenkavalier eingesetzt.

Mit Zar und Zimmermann wird von Documents noch eine weitere Lortzing-Oper offeriert. 1975 unter Heinz Wallberg beim Bayerischen Rundfunk entstanden, ist sie die einzige echte Stereoaufnahme in der Kassette, was die Beschriftung übrigens nicht so ganz deutlich macht. Günstige lizenzrechtliche Gegebenheiten haben wohl zu dieser Übernahme geführt; für die restlichen Mono-Opern gelten ja grundsätzlich keine Leistungsschutzrechte. Hermann Prey war stets ein Befürworter der Spieloper, konnte er doch gerade hier sein darstellerisches Temperament günstig einbringen. In diesem Falle ist er, allerdings primär lyrisch, Zar Peter I. Dem Peter Iwanow kommt zugute, dass Adalbert Kraus vom Mozart-Fach herkommt, so dass diese Figur nicht buffonesk „verkommt“. Auch die Marie von Lucia Popp ist so etwas wie ein „Edelgewächs“. Den Bürgermeister van Bett stattet Karl Ridderbusch mit rustikalen Farben aus.

Der Widerspenstigen Zähmung von Hermann Goetz macht auf eine kaum noch geläufige komische Oper aufmerksam.1955 versammelte Joseph Keilberth beim Bayerischen Rundfunk mit der trefflichen Annelies Kupper, dem bariton-potenten Marcel Cordes, dem tenor-schwärmerischen Waldemar Kmentt, dem bass-saftigen Gottlob Frick und anderen ein erstklassiges Ensemble um sich. Frick war schon 1944 in Dresden an einer Einspielung dieser Oper unter Karl Elmendorff beteiligt (hier allerdings Hortensio statt Baptista). Auf der Bühne findet sich das Werk seit vielen Jahren nirgendwo mehr. Da nicht in nachsingbare Nummern aufgeteilt, sondern eher parlandomäßig durchkomponiert, ist diese Oper vielleicht nicht auf Anhieb zugänglich. Einzig wirkliche „Zugnummer“ ist Katharinas Arie „Die Kraft versagt“, die mancher vielleicht noch in der bestechenden Interpretation durch Christel Goltz im Ohr hat. Die Münchner Einspielung ist durchaus ein Plädoyer für das Werk.

Von Friedrich von Flotows Martha gibt es eine wirklich „klassische“ Aufnahme, und die stammt aus dem Berlin von 1944. Wie die ideale Interpretin der Lady Harriet, Erna Berger, einmal erzählte, versammelte sich das Ensemble der Staatsoper unter Johannes Schüler für dieses Unternehmen auf der Hinterbühne des Hauses, um etwaigen Gefährdungen durch Kriegsereignisse aus dem Wege zu gehen. Peter Anders ist ein rührender Lyonel, Else Tegetthoff eine dralle Nancy, Josef Greindl ein saftiger Plumkett. Klanglich ist die Aufnahme selbstredend historisch, was auch die etwas hallige Aufbereitung nicht kaschieren kann.

Bei den Hamburger Rundfunkaufnahmen werden die Dialoge fast durchgehend von Schauspielern übernommen, ein damals übliches Verfahren, welches durchaus nicht nur Freunde fand. Bei Zar und Zimmermann fehlen die Sprechpassagen, die es im Original fraglos gibt, und jetzt nur aus Platzgründen eliminiert wurden. So etwas sollte nicht Schule machen. Außerdem sind die Nummern unangenehm eng aneinander geschnitten. Bei den Lustigen Weibern vom NDR muss man sich an eine ganze Reihe von Vorechos gewöhnen. Dieses technische Manko ist bei alten Rundfunkaufnahmen durchaus nicht selten.