Vergessen Sie den Zuschauer!
Stanislawski bei der Probe scheint auf den ersten Blick nicht mehr zu sein als ein historisches Dokument aus der Prähistorie des Regietheaters. Der Schauspieler Toporkow schildert seine Erfahrungen in drei späten Inszenierungen am Moskauer Akademischen Künstlertheater im unverhüllten Ton der Verehrung. Der 1938 gestorbene Konstantin Stanislawski, einer der ersten wirklichen Theaterregisseure in Russland – und nach wie vor der einflussreichste Schauspiellehrer überhaupt – erscheint auf den ersten Blick als fanatischer Old – School - Guru, der besessen Ziele verfolgt, für die viele heutige Top-Regisseure kaum mehr einen Proberaum betreten würden. Stanislawski will dem Werk gerecht werden, „den Weg der aktiven, echten, organischen Handlung“ nachzeichnen oder gar „auf der Bühne das Leben des menschlichen Geistes wiederzugeben“. Darüber hinaus ist viel, schon fast penetrant viel, von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit die Rede.
Dennoch ist hier ein wesentliches Buch, von dem Berliner Theaterwissenschaftler Andreas Poppe klug gestrafft und eingeleitet, nach über 50 Jahren wieder herausgegeben worden. Zum einen, weil spannend Probenprozesse geschildert werden, in denen wirklich alle Beteiligten auf der Suche sind – und sich kaum je zufrieden geben. Auf dieser Suche werden immer wieder Bereiche gestreift, die, obwohl heute eine komplett andere Ästhetik herrscht als vor 70 Jahren, nichts von ihrer Relevanz eingebüßt haben. Es geht etwa darum, Schauspieler – auch Gute! – von Eitelkeit und Wirkungssucht zu befreien, sie dazu zu bringen, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten ganz dem Gegenstand zu widmen und diesen nie unter Wert zu verkaufen. Aspekte der Rollenarbeit rücken immer wieder in den Vordergrund, die Notwendigkeit von klarer Haltung und Distanz („Warum wollen Sie übrigens weinen? Überlassen Sie das doch dem Zuschauer!“), die Möglich- oder Unmöglichkeit, theatralische Prozesse wiederholbar zu machen und zu halten. Viele Textstellen sind auch heute für Schauspieler und solche, die es werden wollen, durchaus instruktiv.
Eine brennende Frage, die der Text mehr indirekt stellt, ist die nach Rolle, Aufgabe und Verantwortung von Theater in der Gesellschaft. Natürlich war das Moskauer Künstlertheater ein Repräsentationsprojekt des Stalin-Staates. Umso mehr fasziniert die Beharrlichkeit, mit der hier nach größtmöglicher Qualität von Aufführungen für ein Publikum gestrebt wird und gleichzeitig in Form eines Künstlerlaboratoriums intensiv nach neuen Wegen, Formen und Methoden von und für Theater geforscht wird. Die Sehnsucht nach Perfektion, das sich Verbeißen ins Detail, die Absage an den schnellen Erfolg („Vergessen Sie den Zuschauer!“) ist vielleicht zum großen Teil aus der Zeit zu erklären und wäre an einem heutigen Staatstheater schon aus Zeit- und Geldgründen wohl kaum mehr möglich. Ein wenig mehr von dieser Pionier-Leidenschaft würde dennoch kaum schaden, auch nicht in unserer schwierigen Zeit!