Noch eine?

Brauchen wir wirklich noch eine neue Winterreise? Es gibt doch schon alles. Die monumentale Musikalität von Hans Hotter, die bestechende Neurotik von Peter Pears mit Benjamin Britten am Klavier, die melancholische Vielfarbigkeit des noch etwas unfertigen Christian Gerhaher, die zugespitzt rhetorische Version von Roman Trekel, die vollstimmige von Michael Volle. Es gibt die Winterreise für Tenor, für Frauenstimme, mit Gitarrenbegleitung, mit Kammerorchester, mit Drehleier, sogar für modernes Orchester samt Elektronik. Vieles, fast alles, ist gut und spannend. Und über allem schweben die –zig Versionen von Dietrich Fischer-Dieskau, der den Hörer immer wieder auf einzigartige Weise mitnimmt auf die Reise, dabei aber nie in plumpe 1:1-Identifikation verfällt und stets künstlerische Distanz hält und gedankliche Vermittlung leistet. Braucht also irgendwer noch eine neue Winterreise?

Diese hier brauche ich. Aus einer langjährigen Vorliebe für den nicht immer leicht zugänglichen Sänger Wolfgang Holzmair habe ich sie angehört – und seitdem kaum damit aufgehört. Er entdeckt tatsächlich viele Schönheiten und Bezüge in dieser scheinbar ein wenig abgelebten Musik, die auch in seiner etwas phlegmatischen ersten Aufnahme der Winterreise (1996 bei Philips) in keiner Weise zu hören waren.

Holzmair singt durchgängig sehr lyrisch, auch in der stets in den musikalischen Ablauf perfekt eingebundenen Expansion. Seine Interpretation lässt sich als Spannungsverhältnis von epischer Distanz und totaler Verinnerlichung beschreiben. Faszinierend ist der große Bogen, den er mit seinem immer noch bestechend schönen und fragilen Timbre spannt. Der Hörer durchschreitet gleichsam einen Raum mit Gemälden, deren Intensität er sich nicht entziehen kann, deren Betrachtung aber trotzdem – oder deshalb – große Freude bereitet.

Oft scheint der Interpret ins Zentrum eingedrungen, gleichsam im Herzen des lyrischen Ich angekommen zu sein – und dringt dann doch noch tiefer hinein, nimmt noch mehr nach innen zurück. Ein erster Höhepunkt ist hier „Wasserflut“, ein merkwürdig unruhiges, beunruhigendes Innehalten, das in gesteigerter Form in „Rast“ wiederkehrt. „Frühlingstraum“, oft eine einsame, verhalten frohe Idylle im Rahmen des Zyklus, beginnt Holzmair mit sehr dunkler Stimme, die sich dann ganz langsam aufhellt. Es entsteht der Eindruck, als wolle sich da wirklich jemand einen Traum ins Gedächtnis zurück rufen, der aber dann die große Desillusionierung nicht aufbrechen kann. „Die Krähe“ wird mit fahler, quasi „halber“ Stimme angesungen, trotz Pianogesangs eine fast brachiale Todesahnung. In den Liedern „Letzte Hoffnung“, „Im Dorfe“ und „Täuschung“ entdeckt der Österreicher Holzmair Schuberts Wiener Herkunft, findet über die Phrasierung Verbindungslinien, zumindest Anspielungen ans Wiener Lied als letztes, wehmütiges Aufflackern von Lebensfreude.

Was bleibt, ist Gesang. „Die Nebensonnen“ und „der Leiermann“ laufen rein musikalisch ab. Hier hat der Interpret nichts mehr zu sagen und das lyrische Ich verliert sich auf dem Dorfanger hinter dem Horizont. Schönheit und Bewegung schwingen in einem fast unheimlichen Gleichgewicht.

Diese Winterreise schießt aber nur in die Spitzengruppe des aktuellen Kataloges, weil Andreas Haefliger Holzmairs feiner, oft pastellen angehauchter Lesart vom Klavier aus unermüdlich musikalische Energie zuführt, sich an ihn schmiegt, ihm aber auch Widerstände bietet und – gerade im zweiten Teil – entscheidende dramatische Akzente setzt.

Auch klanglich ist die Aufnahme absolut erste Wahl!