Marathon mit Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan
Das gibt es wohl nur bei historischen Aufnahmen: dicke CD-Pakete, die mit wechselnden Themenschwerpunkten und unterschiedlicher Ausdehnung, dabei ohne großen Kostenaufwand zusammenfassen, was an bedeutsamen Aufnahmen im Archiv schlummert und u.U. seit langem nicht mehr auf dem Markt war. Connaisseurs freuen sich über die Wiederbegegnung, und bei Musikliebhabern der jüngeren Generation ist von einem neuen Interesse auszugehen. Universal durchforstete vor einigen Jahren die Archive von Deutsche Grammophon, Decca, Philips und Westminster und startete unter dem Titel „Original Masters“ interessante Wiederveröffentlichungen. EMI macht derzeit Ähnliches mit der ICON-Serie. Manches wird auch unter neuen Label-Etiketten herausgebracht.
Da ist der Membran-Vertrieb besonders eifrig, sowohl auf dem Sektor der E-Musik als auch dem von „U" (besonders bemerkenswert in jüngerer Zeit war eine Zusammenstellung der Aufnahmen von Yma Sumac). Zu einer „Spezialität“ bei „Documents“ (früher bei „History“ u.a.) sind 10-CD-Boxen geworden. Die niedrige Preiskalkulation (durchschnittlich 10 € pro Kassette) lässt eine opulente Ausstattung natürlich nicht zu. Beschriftete Papphüllen sind die Norm, aber die Zusammenstellung der Einspielungen lässt (wie zuletzt etwa bei einer Rafael-Kubelik-Anthologie) Sachkenntnis und gute Quellenkontakte erkennen. Aus den letzten Jahren sind Editionen zu Maria Callas, Peter Pears/Benjamin Britten, Peter Anders und Richard Strauss sowie eine Anthologie zur Dresdner Semperoper, weiterhin „Helden von Bayreuth“ oder auch „Creators“ (Komponisten spielen eigene Werke, darunter Johannes Brahms) nachdrücklich zu erwähnen.
Da die Leistungsschutzrechte bei historischen Aufnahmen relativ locker sind, sind Großeditionen nicht selten. So erschien bei „Documents“ etwa eine Edition mit dem Pianisten Michael Raucheisen, der vor allem auf dem Gebiet der Liedbegleitung einen bedeutenden Namen hatte. Als Leiter der Abteilung Kammermusik beim alten Berliner Reichsrundfunk (also vor 1945) produzierte er mit den in Deutschland verbliebenen Sängern eine Fülle von Aufnahmen, die in den 80er Jahren erstmals bei „Acanta“ veröffentlicht wurden (noch auf LP). Die hier angezeigten „Documents“-Anthologien zu Herbert von Karajan (1908-1989) und (schon etwas zurückliegend) Wilhelm Furtwängler (1886-1954) sind in der vorliegenden Form jedoch Erstveröffentlichungen.
Die beiden Kassetten dürften in quantitativer Hinsicht eine Maximalgrenze erreicht haben. Von Karajan werden 117 CDs in einer (gemessen!) 41 cm langen Kassette angeboten, von Furtwängler 107 CDs in einer mit 37 cm kaum weniger kleineren. Während die Furtwängler-Kollektion das gesamte Künstlerleben dieses Dirigenten umspannt, sind die Karajan-Aufnahmen aus veröffentlichungsrechtlichen Erwägungen auf Einspielungen bis 1960 limitiert. Darunter sind auch Einspielungen mit den Philharmonikern von Wien und Berlin. Die Zusammenarbeit mit diesen Orchestern sollte sich nach 1960 freilich noch steigern Bei „Documents“ liegt ein besonderer Schwerpunkt auf den Produktionen mit dem in London ansässigen Philharmonia Orchestra. Dieser Klangkörper wurde 1945 vom Produzenten Walter Legge (Gatte der Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf) eigens für Studioaufnahmen ins Leben gerufen. In späteren Jahren kamen (bis heute anhaltende) Liveauftritte hinzu, u.a. mit Otto Klemperer, welcher neben Karajan dem Orchester besonders intensiv verbunden war.
Die Grenze von 1960 hat auch zur Folge, dass die meisten Karajan-Einspielungen in MONO vorliegen. Aber die Kassette versteht sich ja auch als dezidiert historisch. Wer kein ausgepichter Klangfetischist ist, wird sich daran ohnehin kaum stoßen und diese Aufnahmen schon deswegen begrüßen, weil gerade die anderthalb Jahrzehnte nach 1945 den Dirigenten vielfach von seiner besten Seite zeigen. Später neigte Karajan, nicht zuletzt beflügelt durch die Entwicklungen der Aufnahmetechnik, zu mitunter selbstzweckhaften Klangverfeinerungen. Alleine seine diversen Beethoven-Zyklen sind diesbezüglich gute Studienobjekte. Der bekannte Journalist Joachim Kaiser fragte sogar schon in seinem Nachruf auf den Dirigenten kritisch, ob die Faszination, welche Karajan zu Lebzeiten unbestreitbar hatte, wirklich dauerhaft sein würde. Noch freilich ist ein Schrumpfen der posthumen Popularität nicht zu erkennen, und manchmal tauchen ja auch noch unveröffentlichte Konzertmitschnitte auf wie jüngst ein Salzburger Festspielkonzert von 1970 (Mozart, Strauss) bei „Testament“.
Bei Wilhelm Furtwängler gibt es aber wohl kaum noch Entdeckungen zu machen. Die Plattenaufnahmen des Dirigenten, beginnend mit der „Freischütz“-Ouvertüre von 1926, endend mit Wagners „Walküre“ von 1954 (die eigentlich einen kompletten „Ring“ einleiten sollte), bilden einen festgefügten Katalog. Auch die Rundfunkaufnahmen Furtwänglers wurden allem Anschein nach vollständig erschlossen. Die „Documents“-Kassette gestattet sich einige Pars-pro-Toto-Entscheidungen. Der römische RAI-„Ring“ Wagners (1953) ist vollständig, von dem Zyklus an der Mailänder Scala 1950 gibt es nur repräsentative Ausschnitte. Von der oben erwähnten „Walküre“ ist nur der 1. Akt berücksichtigt.
Furtwänglers Ausstrahlung manifestiert sich besonders bei Werken des ausgehenden 18. und des 19.Jahrhunderts. Der Bach- Stil des Dirigenten lässt sich im Zeitalter der historischen Aufführung freilich kaum noch goutieren, auch der heitere Rossini (2 Ouvertüren) war Furtwänglers Sache nicht. Erfreulicherweise berücksichtigt „Documents“ etliche Mitschnitte aus der Anfang 1944 zerstörten Alten Berliner Philharmonie, denen eine besondere Magie eignet. Dokumentiert ist auch Furtwänglers Einsatz für Werke des 20, Jahrhunderts, weiterhin finden einige eher untypische Opernmitschnitte Furtwänglers Berücksichtigung wie Berlioz‘ „Damnation de Faust“ oder Verdis „Otello“.
Sorgfältig erfasst ist innerhalb des limitierten Zeitrahmens auch die Repertoire- und Aufnahmevielfalt bei Karajan. Aus der Frühzeit gibt es u.a. die Plattenpremiere des Dirigenten (Ouvertüre zu Mozarts „Zauberflöte“,1938) und das Stereo-Experiment mit Anton Bruckners 8. Sinfonie (nur der Finalsatz blieb erhalten). Mit Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Verdis „Falstaff“ und „Rosenkavalier“ von Richard Strauss sind besonders repräsentative Operneinspielungen Karajans aus den 50er Jahren verfügbar. Sie werden ergänzt durch Belcanto-Werke mit Maria Callas, der Wiener „Aida“ von 1951 mit den Symphonikern, dem Salzburger „Don Carlo“ von 1958. Es gibt auch viel Wagner (u.a. aus Bayreuth), Strauss und Sibelius. Der finnische Komponist soll sich von Karajan übrigens besonders verstanden gefühlt haben. Die Londoner „Fledermaus“ von 1955 ist ein 1A-Zeugnis für den gebürtigen Österreicher.
Furtwängler und Karajan - ein durchaus vergiftetes Konkurrenzverhältnis, von dem in den Booklets ohne höfliche Zurückhaltung die Rede ist. Bei aller Unterschiedlichkeit waren jedoch beide magische Pult-Persönlichkeiten. Es soll hier erst gar nicht der Versuch gemacht werden, die qualitativen Unterschiede zwischen beiden Dirigenten in wenige Worte zu pressen. Die Fülle der Aufnahmen in beiden „Documents“-Kassetten gibt ausreichend Gelegenheit, sich ein eigenes Bild zu machen.