Wagner-Sänger - Ein diskografischer Überblick im Jubiläumsjahr
Das Wagner-Jahr 2013 lässt naturgemäß auch die Phonoindustrie aktiv sein. Neuaufnahmen kompletter Oper sind zwar nicht zu bilanzieren, was angesichts des diesbezüglichen Aufwands durchaus verständlich ist. So graben die Firmen vor allem in ihren Archiven und fördern neu zutage, was vielleicht nicht vergessen, doch möglicherweise schon längere Zeit nicht mehr greifbar war wie etwa die Decca-Einspielungen unter Georg Solti. Einzig das Label Pentatone (inzwischen beim Naxos-Vertrieb gelandet) bietet Novitäten an. Es handelt sich hierbei um sämtliche Musikdramen ab Holländer, allerdings keine Studioproduktionen, sondern Konzertmitschnitte. Ausführende sind neben prominenten Solisten das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester unter seinem Chef Marek Janowski, der bereits als junger Dirigent eine bis heute hochgelobte Ring-Einspielung in Dresden realisierte. Darüber hinaus bietet der Markt einige Recitals, bei denen Sänger aus dem Tenorfach dominieren. Die folgende Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Klaus Florian Vogt war zunächst Hornist im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, wechselte erst relativ spät zum Sängerberuf. Seine Paradepartie bis heute ist der Lohengrin, den er 2002 erstmals in Erfurt verkörperte. 2006 folgten die New Yorker Met, 2007 die Mailänder Scala, dann auch Bayreuth. Der Erfolg ist leicht nachvollziehbar, denn Vogts individuell timbrierte Stimme gibt der Lichtgestalt einen wirklich silbernen schimmernden Glanz mit, dessen Reiz man sich nicht entziehen kann. Dabei besitzt dieses ätherische Organ ein kraftvolles Fundament, eine beneidenswert sichere Höhe und ein enormes Durchhaltevermögen. Nicht zu leugnen ist freilich, dass Vogts manchmal fast androgyn wirkender Tenor mit seiner Unschuldsfarbe nicht unbedingt jedermanns Geschmack ist. Für Lohengrin oder den „reinen Toren“ Parsifal darf sie aber als ideal gelten. Auch Erik und Loge lassen sich mit ihr sehr gut in Deckung bringen, und Siegmund als jüngst hinzugekommener Wagner-Partie ergibt ein weiteres bewegendes Porträt. Rollenfestlegung? Klaus Florian Vogt beklagt sich nicht darüber. Mozarts Tamino hat er ja auch noch nicht ad acta gelegt und würde ihn gerne wieder singen, wenn man ihn dafür engagierte. Aber viele Rollen (wie etwa auch der Hans in Smetanas Die verkaufte Braut oder Matteo in Arabella von Strauss - Auftritte in seiner Zeit an der Dresdner Semper-Oper) dürften angesichts der aktuellen Karriere wohl doch der Vergangenheit angehören. Dramatisches wie Max (Webers Freischütz) und Florestan (Beethovens Fidelio) bleibt aber sicher weiter im Gespräch.
Mit seinem ersten Recital, etwas allgemein und weitläufig mit Helden betitelt, sucht Klaus Florian Vogt der Entwicklung ein wenig entgegen zu steuern. Die Helden-Einspielung ist im Übrigen keine Studioproduktion, sondern ein Livemitschnitt aus der Deutschen Oper Berlin (Juli 2011, Dirigent. Peter Schneider), mit instrumentalen Intermezzi auf CD-Umfang gelängt. Tamino, Max und auch Webers Oberon überzeugen außerordentlich, auch der Bereich der Spieloper (Albert Lortzings Zar und Zimmermann, Friedrich von Flotows Martha) wirkt passgerecht. Das eigentliche Interesse richtet sich aber natürlich auf Lohengrin, Stolzing und Siegmund. Bei den Winterstürmen fließt die Stimme wirklich in einem „milden Licht“ dahin und verbreitet „wunderwebende“ Klänge. Das Timbre wird dem Sänger (mit altersbedingten Modifikationen) hoffentlich erhalten bleiben, Reizvorstellung für einen künftigen Tannhäuser oder auch Tristan.
Die letztgenannte Partie hat Klaus Florian inzwischen in Angriff genommen, freilich beschränkt auf den 2. Akt und auch nur konzertant. Nun gibt auch die CD Wagner Vogt (Orchesterbegleitung durch die Bamberger Symphoniker: unter Jonathan Nott) Kunde von einen eigenwilligen, fast knabenhaften Tristan, der im Liebesduett freilich eine so heroinenferne Isolde wie Camilla Nylund zur Seite haben muss, um zu überzeugen. Der Schluss des 1. Walküren-Aktes profitiert von dieser Besetzungskonstellation gleichfalls. Vogts gestalterische Valeurs imponieren sogar dem strengen Jürgen Kesting (Booklet-Text), der allerdings auf die Farbeigenheiten der Stimme nicht näher eingeht. Lohengrin (Abschied) bleibt wohl einstweilen die stimmigste Partie des Sängers, günstig gefolgt von Erik und Parsifal. Während der oft gesungene, ungestüme Stolzing (bei „Fanget an“, „Am stillen Herd“ ohnehin lyrisch) ebenfalls überzeugt, melden sich bei Rienzi einige Vorbehalte. Dass der Siegfried nur mit seinem Todesgesang vertreten ist, kommt sicher nicht von ungefähr. Doch auch in diesen beiden Fällen gehören dem Sänger alle Sympathien des Hörers.
Neben Klaus Florian Vogt ist Jonas Kaufmann derzeit der wohl (auch von der Bühnenerscheinung her) attraktivste Lohengrin. Dabei besitzen die Stimmen der beiden einen denkbar gegensätzlichen Klangcharakter. Vogt ist vokal eine lichte Jenseits-Gestalt, Kaufmanns Organ ist stark baritonal gefärbt, was der Wirkung von Jugendlichkeit aber nicht abträglich ist. Allerdings ist der Sänger erkennbar auf dem Weg ins Heldenfach. Sein im September 2012 mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Donald Runnicles aufgenommenes Wagner-Recital hatte u.a. zur Folge, dass er sich inzwischen den Tannhäuser für die Bühne vorgenommen hat. Die bestechende Kantabilität bei der Romerzählung rührt fraglos noch aus den lyrischen Jahren des Sängers her (analoge Qualität bei Rienzis Gebet), extreme Wortfärbungen wie bei „Hast Du so böse Lust geteilt“ lassen den genuinen Darsteller erkennen. Auch der Siegfried („Dass der mein Vater nicht ist“) wirkt voll erfasst. Sich den jünglingsschlanken Jonas Kaufmann in dieser Partie auf der Bühne vorzustellen hat schon etwas. Als Siegmund prunkt er u.a. mit lang gedehnten Wälse-Rufen und darf sich dabei auf Lauritz Melchior berufen. Kaufmanns vokaler Goldton wirkt bei der Gralserzählung (mit der originalen 2. Strophe) regelrecht „sexy“, außerdem vermag der Sänger das Geheimnisvolle von Lohengrins „Coming out“ suggestiv zu imaginieren. Der Opernteil der CD wird ergänzt durch Walters „Fanget an“. Ein Wagnis stellen die Wesendonck-Lieder dar, welche Jonas Kaufmann durchaus selbstbewusst auch für die Männerstimme reklamiert. Es bedarf vielleicht eines wiederholten Hörens, um die intelligente, auratische Interpretation voll zu würdigen, aber das tut man zuletzt mit Überzeugung.
Eine Veröffentlichung von BR Klassik heißt Große Wagner-Stimmen. Das lässt an Bayreuth-Weihen denken. In der Tat waren alle Sänger, die auf dieser CD zu hören sind, auf dem Grünen Hügel tätig. Ausnahme: Martina Arroyo, eine vielseitige, aber doch vornehmlich italienisch geprägte Sopranistin. Ihre Elsa 1968 neben Sandor Konya an der Met war ihr einziger großer Rollenauftritt im Wagner-Fach. Die dunkel timbrierte, erotisch gefärbte Stimme prägt Elsas Traum völlig anders wie eine Elisabeth Grümmer, die auf der CD mit ihrem Mädchentimbre dem Gebet der Elisabeth mädchenhafte Frömmigkeit mitgibt. Auch bei Gottlob Frick (Daland) und Josef Greindl (Hagen) gibt es entscheidende Timbre-Unterschiede, obwohl beide zu den „schwarzen“ Bässen gehören: Frick jovial, Greindl sinister-dämonisch. Anja Silja bezwingt mit Sentas Ballade, wie nicht anders zu erwarten. Den „R“-Konsonanten hat sie freilich nie zu beherrschen gelernt. Rudolf Schock, 1963 verstärkt auf dem Weg zur (Platten)Operette, bewältigt Lohengrins Gralserzählung noch immer mit imponierendem Tenorglanz. Gestählte Präsenz eignet Theo Adam bei Wotans Abschied. Mustergültig in der Mischung aus bass-baritonalem Wohllaut und erfülltem Ausdruck ist Franz Crass ein außerordentlicher Sachs (beide Monologe). Ingrid Bjoner (Bayreuth-Auftritte im Abstand von 24 Jahren!) jubelt Elisabeths Hallen-Arie nur so heraus, Catarina Ligendzas Isolde (Liebestod) dürfte zu den besten überhaupt zählen. Das Münchner Rundfunkorchester begleitet unter verschiedenen Dirigenten. Die Mitschnitte, viele vermutlich den sogenannten „Sonntagskonzerten“ entnommen, entstanden zwischen 1963 und 1971, einige sind entsprechend der damaligen Rundfunktechnik noch in Mono.
In die Steinzeit der Musikaufzeichnung führt dann aber die Kassette The Cosima Era. Zunächst beginnt man schon bei der Katalogannonce zu grübeln: 12 CDs, Aufnahmedaten 1900 bis 1930. Da war doch schon mal was. Die Kassette in der Hand zeigt sich bereits nach erstem Stöbern: es handelt sich um eine Wiederveröffentlichung von 100 Jahre Bayreuth auf Schallplatte - Die frühesten Festspielsänger 1876 - 1906. Gewechselt hat nur das Label, jetzt PAN Classic statt Gebhardt; dazu ein leicht verändertes Booklet-Layout. In der Neuausgabe fehlt nur der frühere Hinweis auf verschollene Aufnahmen, immerhin von so bedeutenden Wagner-Interpreten wie Hans Breuer, Ernest van Dyck, Ernst Kraus, Anton van Rooy, Robert vom Scheidt, Walter Soomer. Bei 93 Sängern und 305 Aufnahmen sind Bewertungen naturgemäß nicht möglich. Grundsätzlich: die Kassette ist aufgrund der Fülle von Aufnahmen (übrigens nicht nur mit Ausschnitten aus Wagner-Werken) eine Dokumentation allerersten Ranges. Dass die Klangqualität der (häufig nur klavierbegleiteten) Einspielungen mittelmäßig bis dürftig ist, schmälert die Faszination nicht.
Die Cosima-Ära hat der berühmte Wagner-Sänger Lauritz Melchior nicht mehr mitprägen können, wohl aber die von Sohn Siegfried (und ein Jahr über dessen Tod hinaus). Mit seinem Namen ist zu einer Reihe von Künstlern zu kommen, die Wagner mal mehr, mal weniger zu ihrem Repertoire-Zentrum machten. Das Label Documents ist nicht zuletzt bei der Edition historischer Aufnahmen überaus rührig und bietet - in einfacher, aber ausreichender Kassettenausstattung - höchst preiswerte 10-CD-Anthologien. Eine ist dem dänischen Tenor gewidmet. Stimmpapst Jürgen Kesting widmet in seinem Sängerbuch ein langes Kapitel unter der Überschrift „Erlösung für Wagner“, womit er auf eine einzigartige Verschmelzung von heldischer Physis und sensibler Musikalisierung abhebt. Ein vokales Kraftpaket war Melchior gleichwohl immer, dem es sogar möglich war, anlässlich seines 70.Geburtstages einen immer noch imponierenden Siegmund zu bieten (2 Ausschnitte). Er und Kirsten Flagstad waren viele Jahre das Tristan-Paar schlechthin. Aus diesem Musikdrama und weiteren Wagner-Opern bietet die Kassette einen Querschnitt, der unter den verfügbaren Einspielungen die bedeutendsten kennerisch zusammenstellt. Berücksichtigt wurde u.a. auch die berühmte Einspielung des 1. Walküren-Aktes von 1935 unter Bruno Walter, wo neben Melchior noch Lotte Lehmann und Emanuel List mitwirken (wird demnächst separat veröffentlicht). Italienische und französische Opernarien finden sich in der Kassette ebenfalls, weiterhin US-Radioauftritte mit U-Musik-Titeln (eine Partnerin des Tenors ist Judy Garland) sowie etliche Titel aus Melchiors früher Karriere als Bariton.
Mit zwei anderen Kassetten stellt Documents berühmte Vertreter des Baritonfachs einander gegenüber: George London und Hans Hotter. Londons Stimme imponiert durch ihre feste Statur und maskuline Erotik (nicht von ungefähr war der Kanadier ein führender Vertreter von Mozarts Don Giovanni). Sein erzenes Organ ermöglichte 1958 unter Hans Knappertsbusch eine Einspielung von Wotans Abschied mit einer derartigen Breite und Intensität, wie sie heute kaum noch vorstellbar wäre. Hinreißend auch die Rollenporträts aus dem Umfeld der französischen und russischen Oper, einigermaßen individuell die Mozart-Rollen. Nicht so bekannt dürften die Musical-Titel sein, welche George London 1957 mit dem Roland Shaw Orchestra aufnahm. Hans Hotter war gleichfalls ein ausgesprochen vielseitiger Sänger, nicht auch zuletzt im Bereich des Liedes. Doch seiner heroischen Stimme lagen die Werke Wagners nun mal besonders. In der Kassette umfassen sie immerhin sechs CDs, darunter viele Mitschnitte aus Bayreuth.
Es wäre eine schöne Abrundung dieses Beitrages gewesen, wenn auch eine Wagner-Interpretin hätte Berücksichtigung finden können Aufnahmen der hochdramatischen Sopranistin Astrid Varnay wurden von Documents zwar bereits geplant, die Veröffentlichung dann aber aus organisatorischen Gründen verschoben. Der Autor dieser Zeilen kennt freilich den Inhalt und darf deshalb mit Überzeugung eine hochinteressante Edition in Aussicht stellen.