Übrigens …

An American Voice

Der Tenor Richard Tucker ist eine wirkliche MET-Legende, der einzige Sänger, dessen Trauerfeier jemals auf der Bühne der Metropolitan Opera gefeiert wurde. 30 Jahre lang, von 1943 bis vor seinem frühen Tod sang er vorwiegend an dem New Yorker Opernhaus und ist daher bei uns nicht wirklich bekannt geworden, auch wenn seine wenigen Auftritte, etwa als Radames an der Mailänder Scala, immer rauschende Erfolge waren. In den USA war Tucker auch ein echter Plattenstar. Die Sony hat jetzt, anlässlich seines 100. Geburtstages, zwei Kassetten herausgebracht, eine mit den alten, auch bei uns veröffentlichten RCA Opern- und Arienaufnahmen und die 14-CD-Box „The Song and Cantorial Album Collection“, die viel enthält, was in Deutschland nie veröffentlicht wurde.

Der erste Eindruck ist gewaltig. Da singt einer mit einer urgesunden saftigen Stimme, die über das lyrische Fach deutlich hinaus ist, sich aber lyrische Substanz geradezu im Überfluss bewahrt hat, hochenergetisch und unheimlich direkt. Da lebt einer im Singen. Die Stimme hat einen hellen Bronzeklang und klingt, um ungefähre Altersgenossen heranzuziehen, zwar weniger sinnlich als Corelli aber viel saftiger als Bergonzi. Bei Fritz Wunderlich wurde und wird gerne von der „Träne in der Stimme“ gesprochen, um seinen Gesang zu beschreiben, bei Richard Tucker klingt stets ein bescheidenes, lebensfrohes und durchaus selbstbewusstes Lächeln mit, das natürlich z.B. neapolitanischen Liedern (drei CDs) ganz hervorragend bekommt. Noch schöner sind zwei CDs mit amerikanischen Unterhaltungsstandards mit umwerfenden Interpretationen von Richard Rodgers – Stücken wie dem mittlerweile zur Fußballhymne gewordenen „You’ll never walk alone“. Hier findet sich auch die einzige wirkliche, geschmackliche Entgleisung der Compilation: „Somewhere“ aus der West Side Story als Parcour für brillante Spitzentöne. Brrr!

Dazu kommen zwei echte Kuriositäten: ein „Bel Canto“–Album mit Musik des 17. und 18. Jahrhunderts im amerikanischen Stil der Fifties, aber hinreißend schlackenlos gesungen. Und ein Operettenalbum mit Charme und Schmelz – und auf Englisch. Sechs CDs widmen sich geistlicher und weltlicher jüdischer Musik. Hier singt der gläubige Jude Tucker, der vor seinem späten Karriereeinstieg Vorsänger in der Synagoge war, mit einer Inbrunst, die anfänglich sehr fremd wirkt. Akzeptiert man die, kann man hier eine hochinteressante und nicht selten berührende Reise in eine andere Kultur tun.

Das I-Tüpfelchen ist die Bonus-CD, eine echte historische Rarität, Auszüge aus dem Inaugurationskonzert der Philharmonic Hall im Lincoln Center vom 23. September 1962 mit Vaughan Williams‘ Serenade to Music und dem Anfang von Mahlers Achter unter Leonard Bernstein. Aus dem schlanken, fast weichen musikalischen Fluss erheben sich immer wieder Stimmen wie Eileen Farrell, George London, Ezio Flagello und eben Richard Tucker.

Die Box erzählt viel über das amerikanische Musikleben der 50er und 60er Jahre und nimmt ein für einen sehr charmanten und direkten Sänger mit absolut perfekter Gesangstechnik.