Neobarocker Geist

Händels Orgelkonzerte als delikate Solistenspeise für Klavier und Orchester aus heutiger Sicht? Ja, das geht. Den Beweis tritt Matthias Kirschnereit, einer der wichtigsten deutschen Pianisten der Gegenwart, zusammen mit Lavard Skou Larsen als Chefdirigent der Kammerakademie Neuss an. Opus 4, das sind sechs ursprüngliche Orgelkonzerte aus der Feder des Deutsch-Engländers, folgen einem bestimmten Anspruch, den Kirschnereit im wahrsten Sinne des Wortes „anschlägt“: neobarocken Geist mit heutigem Intellekt zu kombinieren. Das Ergebnis dieser Studie: fabelhaft. Man hört Georg Friedrich Händels Stücke in gewisser Weise wirklich „neu“. Klanglich und spirituell, sinnlich und in überraschender Sympathie.

Entgegen kam den aktuellen Bemühungen um eine Transkription für Klavier, dass der Komponist für seine eigenen Aufführungen eine pedallose und einmanualige Orgel benutzte – da war es kein gewaltiger Sprung mehr zum Steinway, auf dem Kirschnereit spielt. Er selbst hat die Umschreibung übernommen, bleibt jedoch immer nahe am Original Händels. Er erlaubt sich keine Extravaganzen im Stil, in Kadenzen, in Ornamenten. Darin offenbart sich Kirschnereits Respekt vor Händel und seinem Orgeloeuvre.

Die sechs Konzerte entstanden in der Zeit um 1735 und bilden durchaus eine geschlossene Gruppe in der Gesamtliteratur Händels. In den meist vier Sätzen spiegelt sich das damals typische Schema Langsam/Schnell/Langsam/Schnell, das nur selten unterbrochen oder verändert wird (in op. 4,6 oder op. 4,4 beispielsweise). Aber das Konzept bleibt grundsätzlich erhalten. Die schönen lyrischen Einfälle werden kontrastiert von lebhafter, fein ausgehörter Musikalität. Wobei mir scheint, dass Matthias Kirschnereit einen besonderen Zugang zu den langsamen, liedinnigen, traumhaften Partien besitzt. Da wirkt jeder Ton, jeder Akkord, jede Harmonie, jede Finalsequenz als Offenbarung…

Die Deutsche Kammerakademie Neuss, seit über 30 Jahren auf dem internationalen „Markt“ tätig, bleibt zurückhaltend in der Partnerschaft mit dem Pianisten, der Stimmung, Charakter, Tempi in Zusammenarbeit mit Chefdirigent Lavard Skou Larsen vorgibt. Meist ist die Orchesterfassung für zwei Oboen, Streicher und Basso continuo notiert – da gibt es eben bei der Klavierausrichtung keine dramatisch neuen oder gar extrovertierten Akzentuierungen.

Also: Händels Orgel passt zur Klavierversion, wenn sie aus dem neobarocken Geist von Matthias Kirschnereit gestaltet wird. Die sechs Konzerte werden dadurch zum Gewinn für das (Kammermusik-)Repertoire.