Deutschsprachige Oper

Zum wirklich festen Kern des heutigen Opernrepertoires gehören rund 50 Werke, welche oft sogar im Abstand von lediglich einem Jahrzehnt an ein- und demselben Theater produziert werden. Manche Werke erleben freilich einen überraschenden, nicht kalkulierbaren Boom wie derzeit Antonín Dvo?áks Rusalka (zu Recht). Erfreulicherweise gehört es zum Ehrgeiz vieler Häuser, sich immer wieder auch mit Raritäten zu profilieren. Dennoch sind manche - teilweise wirklich zu Unrecht vernachlässigte - Werke in den Spielplänen nur mit der Lupe zu suchen. Manchmal gibt es hierfür nachvollziehbare Gründe, oft aber scheinen Vorurteile einfach nur festgeschrieben zu sein. Mitunter kommt die Anregung zur Neubesinnung nicht von den Theatern selber, sondern im Rahmen von Konzertveranstaltungen oder durch Rundfunkproduktionen. An dieser Stelle sei der Blick auf vier Veröffentlichungen aus dem Bereich der deutschsprachigen Oper geworfen, was mit einem früheren Beitrag („Die schönsten deutschen Opern“, siehe hier) aber nur zufällig korrespondiert.

Die rezeptionelle Problematik bei diesem Genre lässt sich unter anderem an zwei besonders bekannten Komponistennamen festmachen. Carl Maria von Webers Freischütz bleibt selbstredend unverzichtbar, aber eine visuelle Umsetzung wirft in unserem eher unromantischen Zeitalter heikle Interpretationsfragen auf. Psychologische Deutungsansätze sind bei Freischütz aber noch eher möglich als bei Oberon oder gar Euryanthe. Von Albert Lortzing haben sich Zar und Zimmermann sowie Wildschütz relativ ungefährdet gehalten, aber die Zauberwelt von Undine erschließt sich heutigem Verständnis nur noch schwer, und Waffenschmied sperrt sich mit seiner Biedermeierlichkeit. Auf den Komponisten ist am Schluss dieses Beitrags mit positivem Zungenschlag aber noch einmal zurückzukommen.

 

Nessler: Der Trompeter von Säckingen

Ein Werk, dem man wegen seiner Butzenscheiben-Idyllik heute aber wirklich keine Bühnenchancen mehr einräumen kann, ist Victor Nesslers Der Trompeter von Säckingen. Uraufgeführt 1884, ein Jahr nach Wagners Tod, stand das Werk fraglos in dessen übermächtigem Schatten, reizte andererseits durch seine plakative Volkstümlichkeit als Gegenentwurf zu martialischer Helden-Dramatik. Jedenfalls geriet die Leipziger Premiere zu einem großen Erfolg, und das Werk wanderte rasch über viele deutsche Bühnen. Dann aber brach die Erfolgssträhne in sich zusammen. Von einer kurzen Renaissance in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts abgesehen dürfte das Werk in unserer Gegenwart nicht mehr auf die Bühne gebracht worden sein. Verständlich: wen interessiert heute noch die harmlose Liebesgeschichte zwischen einer hochgestellten Dame und einem jungen Mann niederen Standes, dessen Abstammung sich zuletzt aber doch als adelig erweist? Die Musik von Nessler (1841-1890) ist so zündend auch nicht, dass sie das harmlose Sujet aufwerten könnte. Wäre da nicht das „Behüt‘ dich Gott“ mit dem schmachtenden Trompeten-Solo, man wüsste von dem Werklein wohl nichts mehr.

Trotz dieses eher ungünstigen Befunds ist die Initiative des Westdeutschen Rundfunks positiv zu werten, die Oper doch noch einmal ihrem Dornröschen-Schlaf zu entreißen. Mitstreiter der Aktion ist Hermann Prey, der bei den EMI-Initiativen für die deutsche Spieloper in den vergangenen sechziger Jahren eine Art Gallionsfigur war. 1994, als die Nessler-Oper im Kölner Funkhaus produziert wurde, war der Sänger 65 Jahre alt und vermochte immer noch mit intensiver Schubert-Lyrik aufzuwarten. Regina Klepper als die von Jung-Werner angebetete Marie singt mit schöner Sopran-Frische, auch die restliche Besetzung (Katharina Kammerloher, Franz Hawlata, Christoph Späth, Reinhard Hagen, Alfred Kuhn) macht der Einspielung Ehre. WDR Chor und -Rundfunkorchester unter Helmuth Froschauer lassen an klanglicher Verve kaum etwas zu wünschen übrig. Dass in dieser Aufnahme die Sprechdialoge fehlen, kann man fast als „entlastend“ empfinden

 

Marschner: Der Vampyr

Auch die Werke Heinrich Marschners spielen sich heutzutage nicht leicht, aber die Anstrengung lohnt. Der Rezensent erinnert sich an Templer und Jüdin in Gießen, an Hans Heiling in Wuppertal. Der Vampyr ist ihm bislang freilich nicht untergekommen. Wie Heiling ist Lord Ruthven ein Unirdischer, welcher mit der Oberwelt auf dämonische Weise in Kontakt tritt. Während aber Heiling jenem romantischen Personentyp zuzuordnen ist, der sich (wie auch die Vielzahl von Undinen, Rusalkis und Melusinen) nach menschlicher Geborgenheit und Zuneigung sehnt, ist Ruthven eine negativ geprägte Figur, einzig nach Blut dürstend. Die Genealogie dieser gruseligen Figur geht auf einen literarischen Kreis von 1816 zurück, dem Byron, Dysshe, Shelly und Polidori angehörten. Dass der Vampir bis in unsere Zeit hinein nichts an Faszination verloren hat, zeigen die Nosferatu-Filme mit Max Schreck und Klaus Kinski; Roman Polanski lieferte mit seinem Tanz der Vampire eine geniale Persiflage.

Bei Marschner freilich ist alles blutiger Ernst. Ruthven muss, will er seine Stellung im Kreis der Vampire halten, binnen eines Tages drei Bräute als Blutopfer herbeischaffen. Das scheint ihm anfangs zu gelingen, zuletzt trifft den aber doch Erfolglosen ein tödlicher Blitzschlag. Für diese makabre Handlung auf der Bühne eine angemessene Erzählweise zu finden, dürfte nicht eben leicht sein, zumal auch biedermeierliche Züge der Handlung bewältigt werden wollen. Ihnen versucht eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks von 1999 aus dem Wege zu gehen, indem sie die Sprechdialoge unter den Tisch fallen lässt, eine theatralisch halbherzige Lösung. Doch ist dankbar dafür zu sein, dass Marschners Werk ansonsten akustisch einmal komplett greifbar wird. Wie bereits bei Nesslers Trompeter obliegt Helmuth Froschauer die musikalische Leitung, welche mit dem WDR Rundfunkorchester einigermaßen handfest ausfällt, was aber keineswegs abschätzig gemeint ist. Bei den Sängern trifft man auf etliche Künstler, welche dem Sender über Jahre hinweg in vielseitiger Weise zur Verfügung standen wie Thomas Dewald. Franz Hawlata (Ruthven) wurde sogar die Ehre eines Recitals („Mephisto“) zuteil. Die dramatische Präsenz des Sängers überzeugt, das Timbre nicht in gleicher Weise. Anke Hoffmann ist mit ihrem verlässlichen Sopran als Jantha und Emmy (diese Figur hat Wagner beeinflusst) angenehm zu hören, Regina Klepper als Malwina. Interessant die Begegnung mit dem noch ganz jungen Jonas Kaufmann (Aubrey, Gegenspieler Ruthvens). Seine Stimme ist noch nicht so sexy-baritonal eingedunkelt wie heute. Dafür werden die lyrischen Qualitäten seines Singens besonders hervorgehoben.

 

Danzi: Der Berggeist

Die wichtigste Oper Marschners, Hans Heiling, gibt es derzeit in drei historischen Aufnahmen (NDR 1950, HR 1951, ORF 1955). Sie alle gehören dem sog. „grauen Markt“ an. Dort kursierte auch mal die Einspielung des WDR von 1967 unter Joseph Keilberth. Auch hier verkörperte Hermann Prey, dem Kölner Sender seit den fünfziger Jahren verbunden, die zentrale Partie. Wie viele andere Geister ist dieser Heiling von der Sehnsucht nach der Oberwelt, nach Liebe zu einem Menschenkind durchdrungen. Solch ein Charakter verlangt eigentlich nach dem einem Bariton-Timbre. Franz Danzi indes sieht für seinen Berggeist (das ist Rübezahl) einen Tenor vor, erster Hinweis für eine gewisse Zwitterstellung seines Bühnenwerkes, welches gleichwohl bewusst als „romantische Oper“ untertitelt ist. Danzi fühlte sich 1813 (Uraufführung des Werkes) immer noch einem Mozart und Haydn verpflichtet. Allerdings ließ er es auch an Elogen für einen Carl Maria von Weber nicht fehlen, der übrigens ebenfalls die Figur des Rübezahl angegangen ist (Fragment Beherrscher der Geister) Die Handlungskonstellation bei Danzi antizipiert allerdings eher den Oberon, wo sich der Elfenkönig mit seiner Gemahlin Titania nach Eifersüchteleien wieder versöhnt. Diese tritt ebenso wenig singend auf wie Danzis Nixenkönigin Erli. Wegen einer Kränkung hat sie ihren Gatten Rübezahl in einen hundertjährigen Schlaf versetzt. Aus ihm erwachend, versucht er Erli zurückzugewinnen. Die zum glücklichen Ende führenden Begebenheiten sind reichlich konstruiert, entbehren psychologischer Sinnfälligkeit. Dennoch ist die Musik werkdramaturgisch und orchestral fantasievoll. Wenn manches dennoch etwas zaghaft klingt, sollte der nachgeborene Hörer die Entstehungszeit des Werkes zwischen Fidelio (1805) und Freischütz (1821) bedenken.

Wie bei den zuvor besprochenen Aufnahmen war es wohl auch beim Berggeist sinnvoll, die Sprechdialoge zu eliminieren. Bei der öffentlichen Konzertaufführung am 20.4. 2012 benutzte man allerdings verbindende Texte, die die CD-Version aber nicht übernommen wurden. Colin Balzer verfügt über einen weichen, geschmeidigen Mozart-Tenor. Dass man das mit der Titelfigur nur bedingt in Deckung bringen kann, ist aber nicht dem Sänger, sondern dem Werk anzulasten. Als die von Rübezahl begehrte Anne führt Sarah Wegener einen hell leuchtenden Sopran ins Treffen, Daniel Ochoa, Sophie Harmsen, Christian Immler und Tilman Lichdi ergeben ein rollenadäquates Restensemble. Der Kammerchor und die Hofkapelle von Stuttgart musizieren unter Leitung von Frieder Bernius romantisch erwärmt, aber immer auch Mozartisch leichtfüßig.

 

Lortzing: Regina

Wie Marschner und Danzi hat sich auch Albert Lortzing in die Sagenwelt begeben (Undine), doch letztlich war er ein bodenständiger Künstler. Dass in Waffenschmied oder auch Zar und Zimmermann einfache Arbeiter auftreten, sollte man soziologisch nicht überbewerten. Diese Handwerker sind ein freundliches Völkchen, lieben ihr Tun und preisen es mit munteren Gesängen. Ganz anders hingegen die Situation in Regina. „Wir wollen nicht“ ruft gleich zu Beginn die aufgebrachte Mannschaft einer Fabrik, um sich dann aber bald wieder - gemahnt vom Geschäftsführer Richard - ehrerbietig zu verhalten.

Dennoch bleibt das Revolutionsjahr 1848 ein gravierender Hintergrund für diese Oper. Lortzing war damals im Theater an der Wien engagiert und erlebte hautnah mit, was sich in drei crescendierenden Schüben des Aufstands in der Donaumetropole tat. Metternich floh, ebenso Kaiser Ferdinand I, doch dann siegte die reaktionäre Macht doch wieder. Eines ihrer Opfer war Robert Blum, ein enger Freund Lortzings. Mit seiner Regina reagierte der Komponist also durchaus engagiert auf all diese Geschehnisse. Da in der Opernhandlung jedoch eine unglückliche Liebesgeschichte dominiert, geht der revolutionäre Elan etwas unter. Immerhin: die gekidnappte Regina erschießt ihren Entführer Stepan, der willens ist, sich mit ihr in die Luft zu sprengen (welche Parallele zu den heutigen Selbstmordattentaten).

Die Rezeptionsgeschichte von Regina ist wahrlich abenteuerlich. Zu Lortzings Lebzeiten erblickte sie nicht das Licht der Bühnenwelt, erst 1899 erfolgte die Uraufführung (mit gravierenden Eingriffen). Das Gezerre um Original und Bearbeitung ging dann weiter, nicht zuletzt zwischen den beiden deutschen Staaten Anfang der fünfziger Jahre. Eine (noch nicht ganz geglückte) Interpretation der Urgestalt bot das Theater Oberhausen 1981. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch an Details, auch an die einer späteren Konwitschny-Inszenierung in Gelsenkirchen (1998). Im vergangenen Jahr stellte Kaiserslautern Regina neu zur Diskussion, Regisseur war Hansgünther Heyme (!).

Zuvor hatte sich aber bereits Ulf Schirmer, ein ausgewiesener Raritätenfahnder, mit seinem Münchner Rundfunkorchester für die Oper stark gemacht. Der Konzertmitschnitt aus dem Prinzregentheater vom Januar 2011 hält eine dramatisch pulsierende Interpretation fest, welche die zum Teil wirklich hinreißenden Einfälle Lortzings effektvoll herausarbeitet. Kompositorischer Elan kommt nicht zuletzt in den ausgedehnten Finali zum Tragen. Dafür ist der liebestolle Stephan allerdings - zumal in Gestalt des baritonal chevaleresken Detlef Roth, Bayreuther Amfortas sein 2008 - kein Wüterich, sondern ein schmerzgeprägt Liebender. Das entspricht nicht ganz dem intendierten Charakter. Johanna Stojkovic (Regina) und Daniel Hirsch (ihr Geliebter Richard) gehen bei dem gut zusammengestellten Ensemble schönstimmig in Führung. Wie immer man Regina zu bewerten und zu klassifizieren willens ist: diese Aufnahme war fällig und gehört ins CD-Regal einer jeden Operndramaturgie.