Tenorales Gruppenbild mit Damen
Über Herbert von Karajan kursiert der Witz, er habe auf die Frage eines Taxifahrers nach seinem Ziel geantwortet: „Egal wohin, ich werde überall gebraucht.“ Ähnliches könnte man von Plácido Domingo sagen, der auch als Dirigent und Operndirektor Karriere machte. Als Sänger ist er fraglos ein Phänomen. Alleine an der New Yorker Met steht er seit sage und schreibe 45 Jahren auf der Bühne. Von den „Drei Tenören“ verfügt er (nach Meinung des Rezensenten) über das bezwingendste Timbre; live kommt eine differenzierte Bühnendarstellung und ein attraktives Äußeres hinzu (dies kann man allerdings auch José Carreras attestieren). Domingos Domäne ist fraglos die italienische Oper, freilich dicht gefolgt von der französischen, wovon die Sony-Kassette „Domingo at the Met“ Zeugnis ablegt. Giuseppe Verdis „Otello“ hatte er entgegen manchen Befürchtungen relativ frühzeitig im Repertoire, ohne stimmlich Schaden zu nehmen. Dass er kein ausgeprochener Ritter vom hohen „C“ ist, war ihm selber bewusst, aber die gut focussierten Spitzentönen in „Aida“ und „Faust“ sind aller Ehren wert. Wagner-Partien: Respekt, Respekt - und Peter Tschaikowskys Hermann („Pique Dame“) bewältigt er sogar auf Russisch. Domingo hat auch die zeitgenössische Oper nicht beiseite gelassen, hob Tan Duns „The first Emperor“ (Aufführung unter Leitung des Komponisten 2007) sogar aus der Taufe. Die Musik klingt freilich retrospektiv-veristisch. Aus dem gleichen Jahr gibt es in der Anthologie den Orest in Christoph Willibald Glucks „Iphigénie en Tauride“. Damals begann Domingo, aus Altersgründen ins Baritonfach zu wechseln. Die Met-Kollektion bietet Kontrastrollen aus Verdis „La Traviata“ (Sohn und Vater Germont) und „Simon Boccanegra“ (Gabriele Adorno und Titelpartie). Die tenorale Grundfarbe von Domingos Stimme bleibt weiterhin erkennbar, aber alleine sein Siegmund (Richard Wagners „Walküre“, 2000) zeigt, dass die Tiefe bei ihm schon immer sehr gut ausgeprägt war. Die Met-Kollektion deckt nicht die gesamte Breite von Domingos Repertoire ab; in Studioaufnahmen widmete er sich beispielsweise auch Mozart, „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss, Carl Maria von Webers „Oberon“, Wagners „Meistersingern“ und „Tristan“ und sogar der Operette. Unterschiedliches Gelingen kann da zwangsläufig nicht ausbleiben, aber das ändert nichts am Ausnahmerang dieses Vollblutkünstlers.
Ein ähnliches Phänomen wie Domingo ist Edita Gruberova. Sie hat trotz vorgerücktem Alter allerdings keinen Fachwechsel vorgenommen, sondern brilliert weiterhin mit den tragischen Rollen Vincenzo Bellinis und Gaetano Donizettis. Diese Interpretationen haben durch ihre Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christof Loy ohne Zweifel an theatralischer Eloquenz gewonnen. Das wirkt sich auch auf ihr aktuelles Mozart-Recital aus, mit welchem die Künstlerin zeigen möchte, dass ihr Rollenspektrum über den italienischen Belcanto nach wie vor hinaus geht. Krönung des Programms ist sicherlich Elektras Arie „D’Oreste e d’Ajace“ aus „Idomeneo“. Da wird Edita Gruberova mit ihrem Lach-Staccato wirklich zur Furie. Diese feurige Interpretation wird gestützt durch das fulminante Orchester „L‘Arte del Mondo“ unter seinem Dirigenten Werner Erhardt, ehemals Konzertmeister von „Concerto Köln“. Auch Konstanzes „Martern aller Arten“ („Entführung“) und Sifares „Soffre il mio cor“ („Mitridate“) liegen der Primadonne bestens in der Kehle. Hingegen gelingen - trotz der ungemein jugendfarbigen Susanna-Arie „Giunse alfin il momento“ („Nozze di Figaro“) - lyrische Szenen nicht gleichermaßen. Da fehlt es mitunter doch an ebenmäßiger Linie und sogar an Koloraturperfektion. Insgesamt aber nötigt die sängerische Attacke der Gruberova, ihre sichere Beherrschung auch extremer Spitzentöne höchsten Respekt ab.
Leichter Etikettenschwindel bei „Donizetti Heroines“ mit der rumänischen Sopranistin Elena Mosuc. Mit rund 12 Minuten bietet die große Szene der Norma in Vincenzo Bellinis gleichmaliger Oper („Casta Diva“) ein gewichtiges Finale. Es bestätigt die Beheimatung der Künstlerin im Koloraturfach, auch wenn sie darüber immer wieder mal hinaus geht (Micaela, Liu u.a.). Wie ihre slowakische Fachkollegin Edita Gruberova befindet sie sich in einem vorgerückten Alter, wo dieses stressige Repertoire keineswegs mehr selbstverständlich ist. Insofern wirkt das neue Recital von Elena Mosuc äußerst imponierend und bestätigt ihren künstlerischen Rang. Auftritte an der Mailänder Scala und der New Yorker Met, dazu ein spät erworbener Doktortitel - alles Beweise für Fleiß, Können und Disziplin. Sie spiegeln sich auch in dem Donizetti-Programm mit Ausschnitten aus „Lucrezia Borgia“, „Maria Stuarda“, „Anna Bolena“, Roberto Devereux“ und „Lucia di Lammermoor“. Nicht immer ist die Technik ganz lupenrein, und es schleicht sich schon mal der eine oder andere scharfe Ton ein, doch als „Schönheitsfehler“ muss man das nicht gleich bezeichnen. Vorteilhaft bei der Szenenauswahl ist, dass neben dem Orchester der kroatischen Radio-Television auch der angeschlossene Chor mitwirkt (versierter Dirigent: Ivo Lipanovic). So wird kein virtuoses Häppchen-Programm geboten, sondern eine wirkliche theatralisch-dramatische Anthologie. Bei Lucias Wahnsinns-Szene wird überdies akustisch verifizierbar, warum Donizetti original eine Glasharmonika vorschreibt, während sich landläufige Aufnahmen mit einer Flöte begnügen.
Apart ihre Herkunft Neuseeland, ihre Erscheinung (auch noch jetzt im siebten Lebensjahrzehnt) und natürlich die Stimme. Kiri Te Kanawas exquisites Timbre hat freilich auch Kritik zur Folge gehabt, welche sich mit dem Text der Tosca-Arie „Vissi d’arte“ („Nur der Schönheit weiht‘ ich mein Leben“) umschreiben ließe. Bei vier in einer Kassette zusammengefassten Recitals der Jahre 1988 bis 1997 kann man sich leicht ein eigenes Urteil bilden. Die melancholisch lyrischen Arien der Liu („Puccinis „Turandot“) führt die Künstlerin äußerst stimmig ein, bei Verdi empfindet man aber Grenzen. Auch Wagner („Tannhäuser“, „Meistersinger“, „Walküre“) ist nicht ganz Kiri Te Kanawas Terrain, selbst wenn die Leuchtkraft ihres Sopran die Partien wirkungsvoll illuminiert. Leuchtfarbig auch das Strauss-Programm mit einem Höhepunkt bei Daphnes Verwandlung in einen Lorbeerbaum, wo die Musik in höhere Sphären gleitet. Melismatisches Pianissimo und belcanteskes Schmeicheln ist ja gerade die Stärke der Sängerin. Bei allen Aufnahmen stehen ranghohe Maestri am Pult prominenter Orchester: Myung-Whun Chung, Kent Nagano, Julius Rudel.
Auch der Stimme von Pilar Lorengar ist besondere Leuchtkraft eigen, was bei jetzt veröffentlichten frühen Berliner Rundfunkaufnahmen (1959-1962) besonders deutlich wird. Das passt zum etwas eigentümlichen Bild einer blonden Spanierin. In der 3-CD-Kassette sind Einspielungen des ehemaligen RIAS zusammengefasst (eine Spezialität des Labels „audite“). Wie auch bei anderen Künstlern kommt man bei dieser Gelegenheit in den Genuss von Titeln und Interpretationen, die auf Einspielungen der Phonoindustrie nicht immer greifbar sind. Eine Szene aus „Goyescas“ von Enrique Granados versteht sich bei Pilar Lorengar natürlich von selbst, die schon in ganz jungen Jahren bei vielen Zarzuela-Aufnahmen mitwirkte. Puccini (Liu, Cho-Cho-San, Mimi) gibt es auch bei den offiziellen Platten. Pilar Lorengars klares, sonnenhelles Organ lässt nirgends falsche Sentimentalität aufkommen. Ganz aus dem vertrauten Repertoire-Rahmen der Sängerin Rahmen fällt Bellinis Norma („Casta Diva“). Neuerlich bezaubert die Natürlichkeit der Darstellung ohne ein demonstratives Ausstellen vokaler Raffinessen. Auch die Arien aus Verdis „Ernani“ und „Traviata“ wirken angenehm „humanisiert“. Zauberhaft Mozarts lyrische Pamina („Zauberflöte“), wohingegen bei Donna Anna („Giovanni“) dramatischer Aufschwung spürbar wird. Charmant geraten Pilar Lorengar die Barock-Piècen (Händels „Giulio Cesare“, Alessandro Scarlattis „Pirro e Demetrio“). Neben dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin fungieren auch die Philharmoniker der Stadt als Begleitorchester. Der Opern-CD folgen zwei weitere mit Konzertaufnahmen. Viele Lieder sind spanischer Herkunft, aber es gibt auch Mozart, Bellini und Verdi zu hören. Am Klavier sitzt die legendäre Hertha Lust, an der Gitarre Siegfried Behrend.
In seinem ebenso hochgeachteten wie aber auch geschmähten Sängerlexikon vergleicht Jürgen Kesting das Singen von Ghena Dimitrova mit den „Klimmzügen eines mehr oder weniger ermüdeten Athleten, der sich bis zum Schluss nur noch langsam-krampfartig in die Höhe ziehen kann.“ Der wie fast immer unwirsch und mit zerstörerischem Vokabular argumentierende Autor legt sicher manchmal berechtigterweise den Finger auf die Wunden vokaler Ungenügsamkeit, aber was er über die bulgarische Sopranistin (inzwischen 70) äußert, ist nur bedingt nachvollziehbar. Das 1986 entstandene, raritätenreiche Tschaikowsky-Recital von Ghena Dimitrova (mit dem Hungarian State Orchestra unter Zoltán Peskó) , bei Newton neu aufgelegt, lässt eine ausladende Stimme hören (Puccinis Turandot gehörte nicht von ungefähr zu ihren Paradepartien), die trotz subtiler Details in lyrischen Momenten (wie Tatjanas Briefszene) gestalterisch tatsächlich nicht ganz zum Zuge kommt. Die blutvolle slawische Seele ist bei der Sopranistin freilich stets spürbar.
Aus Bulgarien stammt auch Krassimira Stoyanova. „Verdi“ ist ihr drittes Solo-Recital beim Label Orfeo in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk. Für diesen Komponisten scheint die Sopranistin (Jahrgang 1962) tatsächlich geboren. Das Programm besteht (bis auf einen Ausschnitt aus „Giovanna d’Arco“) aus den repertoiretypischen Nummern; das könnte man unter Umständen. monieren. Aber alle Partien stellen das gestalterische Vermögen der Künstlerin wundervoll heraus. Ob sie die Violetta („Traviata“) jemals vollständig gesungen hat? Ihr Koloraturvermögen stellt sie auch mit „Trovatore“ („Tacea la notte“) unter Beweis; aber Violettas “Addio del passato“ liegt ihr besonders. Hier kann sie sich melodisch empfindsam äußern, mit einem krönenden Piano-Spitzenton am Schluss. Ausgesprochen empfindsam gerät auch Leonoras „Pace“ in „Forza del destíno“ (überdies ein superber Schwellton zu Beginn). Dass Krassimira Stoyanovas Stimme zum Spinto-Fach drängt, ist trotz einer ungemein verinnerlichten Desdemona unüberhörbar. Dennoch vermischen sich eine typisch slawische Energie des Singens sehr glücklich mit den Erfordernissen des Belcanto. Man darf gespannt sein, wie sie bei den diesjährigen Salzburger Festspielen die „Rosenkavalier“-Marschallin meistert.
Unmittelbar nach dieser CD das italienische Recital von Dinar Alieva zu hören, ist so erhellend wie ernüchternd. Die Stimme der aus Baku stammenden Sopranistin ist um einige Grade runder, weicher, fülliger als die von Krassimira Stoyanova, aber sie bleibt trotz gestalterisch sensibler Details in neutralem Schönklang befangen. Die Lobesworte ihrer Lehrerinnen Teresa Berganza, Montserrat Caballé und Elena Obratzowa (Booklet) in Ehren, aber letzte Erfüllung wird nur selten spürbar.
Auch der jungen deutschen Koloratursopranistin Marie Friedrike Schröder ist viel Können zu attestieren. Sie besitzt beispielsweise eine sichere Extremhöhe, der Gebrauch von Appogiaturen u.ä. zeugt von stilistisch-gestalterischem Ehrgeiz (mitunter sogar etwas zu viel). Aber die Stimme wirkt noch nicht gänzlich ausgereift, zudem gibt es einige leichte Forcierungen. Die Glöckchen-Arie aus „Lakmé“ von Léo Délibes hat bei aller Sattelfestigkeit etwas Akademisches, manchen Rollenporträts (Blondchen in Mozarts „Entführung“, Ännchen in Webers „Freischütz“) fehlt es an wirklichem Charme. Die von der begleitenden Vogtland Philharmonie unter Stefan Fraas gespielte Ouvertüre zur „Entführung“ wirkt im ansonsten reinen Arienprogramm etwas aufgesetzt, und das (einen etwas naiven Booklet-Text der Sängerin auslösende) Strauss-Lied „Amor“ wirkt im Opernumfeld fremd.
Mit seinem „Dalla sua pace“ löst Francisco Araiza (fast) sämtliche Probleme, welche man mit Mozarts Ottavio („Don Giovanni“) zu haben glaubt. Der mexikanische Tenor führt eine weiche und doch sehr männliche, leicht elegisch gefärbte Stimme ins Treffen. Ein Edelmann comme il faut, der seine Leidenschaft halt nur hinter etikettenhaftem Verhalten verbirgt. Die zweite Strophe beginnt Araiza im Pianissimo, wie auch bei „Il mio tesoro intanto“. Hier bewältigt er die lange Phrase zur Reprise sogar auf einem Atem. Es hat Warnungen gegeben, das lyrische Fach aufzugeben, aber Francisco Araiza war sich über die Konsistenz seines wunderbaren Organs mit der dunklen Tönung sehr bewusst, peilte schon früh „heldischere“ Partien an. Dass er bei den Erler Festspielen (Tirol) mit 57 Jahren noch einen vitalen, jugendlichen Siegmund präsentieren konnte (auf der CD von Solo Musica ist es der Monolog „Ein Schwert verhieß mir der Vater“), ist Beweis dafür, dass er sich sängerisch nicht verhoben hat. Seine Wunschpartie, der Lohengrin, ist mit seinem Debüt 1990 in Venedig (Dirigent: Christian Thielemann) dokumentiert. Bis auf den Spitzenton bei „Taube“ eine makellose Darbietung. Massenets „Cid“, Giordanos „Andrea Chénier“ und Tschaikowskys Lenski („Eugen Onegin“ - auf Russisch) sind weitere Höhepunkte der Livemitschnitte, welche hauptsächlich aus München stammen.
Bei Rolando Villazón, wie Araiza gebürtiger Mexikaner, gehen die Meinungen etwas auseinander. Auf der einen Seite steht die Anerkennung für Fleiß und Repertoirevielfalt. Der Sänger wagte sich sogar verschiedentlich an das deutsche Kunstlied und hat, als geborenes „Bühnentier“, Opern auch inszeniert. In der Salzburger „Traviata“ (2005) (mit Anna Netrebko als wirklich glorioser Violetta) flossen Energie und Zärtlichkeit auf stimmige Weise zusammen. Doch wie seine Partnerin wird er von einem mediengestützten, kräftezehrenden VIP-Rummel vereinnahmt. Ob Villazóns Stimmkrise (mittlerweile wohl überwunden) ursächlich damit zusammen hängt, kann hier nicht entschieden werden, aber der Sänger musste sich neu etablieren und beweisen. Mit seiner aktuellen Mozart-CD zeigt er, dass er nicht den leichten Weg zu gehen gewillt ist. Er bietet ausschließlich unbekannte Konzertarien und Einlagen für Fremdopern. Mozart bedeutet für Villazón, wie er mal zu Protokoll gab, ein ideale Möglichkeit, Stimmkontrolle und -hygiene zu betreiben. Seine leicht euphorische Art des Singens mag Beckmesser zu Stildiskussionen animieren, aber die Verve seiner Interpretation hat etwas sympathisch Überrumpelndes, vor allem, wenn er komödiantisches Temperament ausleben kann wie im zungenbrecherischen „Clarice cara mia sposa“, wo der Dirigent des London Symphony Orchestra, Antonio Pappano, sogar als vokaler Stichwortgeber fungiert.
Neben Richard Strauss ist anno 2014 ein weiterer Jubilar zu feiern: Christoph Willibald Gluck. Daniel Behle bietet eine Arien-Auswahl vor allem aus unbekannten Bühnenwerken und unterstreicht nach diversen Lied-CDs damit auch seinen Rang als Opernsänger. Begleitet wird er von dem immer stärker in den Blickpunkt geratenden Orchester Armonia Atena, welches George Petrou mit starker emotionaler Expression leitet. Gleich die Arie aus „Antigono“ (1756) zeigt, dass Gluck selbst auf dem (vor allem durch den Textdichter Metastasio geprägten) Seria-Terrain, aus dem er sich später mehr und mehr entfernte, äußerst inspirierte Musik zu schreiben imstande war. Die horn-dominant instrumentierte Szene mit ihren heroischen Aufschwüngen sollte nach dieser Ersteinspielung eigentlich zum Repertoire-Hit werden. Behles interpretiert mit seinem hell-maskulinen Tenor, sattelfest bei Trillern und Staccati, klangsicher in Höhe wie Tiefe, stilversiert, gleichzeitig mit eminent theatralischem Instinkt. Orfeos „J‘ai perdu“ ist bei ihm wirklich ein seelisches Drama und Konkurrenz zu eher fragilen Interpretationen wie denen von Léopold Simoneau oder Nicolai Gedda.
Auch mit 41 Jahren ist Juan Diego Flórez noch immer der Prototyp eines romantischen Opernjünglings. Seine fesche Erscheinung becirct, sein viriler Tenor bringt Gletscher nachgerade zum Schmelzen. Das Timbre ist zudem entschieden erotischer als jenes von Luciano Pavarotti (etwa beim Tonio in Donizettis „Fille de Régiment“), vom Äußeren sollte erst gar nicht geredet werden. Der Peruaner Florez, bislang fast ausschließlich im italienischen Fach zu Hause, scheint sich jetzt mit Nachdruck das französische Repertoire erobern zu wollen. Eine seiner Paradepartien, der eben erwähnte Tonio, ist es eh schon, auch Glucks Orfeo verkörperte er bereits (integral) im Studio. Jetzt das Recital „L’amour“, dessen Titel Gounods „Roméo et Juliette“ entnommen ist, wo der Gesang von Florez nicht anders als berückend zu bezeichnen ist. Seinem Paris in Offenbachs „Belle Hélène“ eignet lausbübischer Charme. Die düster-melancholische Seite von Massenets Werther gibt Florez‘ Stimme vielleicht nur bedingt her, aber „Pourquoi me réveiller“ dürfte kaum schöner zu singen sein. Entwaffnender lyrischer Schmelz findet sich weiterhin in Opern von Donizetti, Berlioz, Bizet, Adam, Délibes, Thomas und Boieldieu. Selbst der Hanslick unserer Tage, Jürgen Kesting, lobte dieses Recital über den grünen Klee.
Gleich vier Countertenöre gibt es aktuell vorzustellen. Dieses Fach erfuhr in letzter Zeit einen ungeheueren Aufschwung, was die Wiederbelebung von Barockopern begünstigt hat. Einen Höhepunkt in dieser Entwicklung bedeutet die Aufführung von Leonardo Vincis „Artaserse“ (szenisch, danach konzertant auf Tour). Bei diesem Werk werden sogar fünf Fachvertreter gefordert. Mit dabei war Max Emanuel Cencic, der sich auf seiner jüngsten Solo-CD allerdings ganz dem Komponisten Johann Adolf Hasse zuwendet (wie es jüngst auch sein Fachkollege Valer Sabadus tat). Hasse war zu seiner Zeit ein hochgeschätzter Musiker, trat selber als Sänger auf (seine Frau war die berühmte Primadonna Faustina Bordoni). Dass er sich stilistisch von den Reformideen eines Gluck fern hielt, mag dazu geführt haben, dass er bald nach seinem Tod (1783) in Vergessenheit geriet. Heute gräbt man ihn (und andere Zeitgenossen) wieder aus. Cencic bietet sieben Arien als Weltersteinspielungen. “De’ folgeri di Giove“ aus „Il Trionfo di Clelia“ mit attraktiven Hörnerklang erweist sich als echtes Juwel. Nicht alle Ausschnitte freilich bewegen sich auf dieser Höhe. Obwohl Cencic auch in lyrisch kontemplativen Arien Überzeugendes bietet, scheint er von sich aus solche mit dramatischer Koloratur-Attacke zu bevorzugen. Seine „geläufige Gurgel“ lässt ihn nirgends im Stich und kaschiert auch, dass sein relativ maskulines Timbre in der Höhe schon mal eng und sogar grell wird. Das furios begleitende Orchester „Armonia Atenea“ (Dirigent: George Petrou) weist nach, dass es eine „Alte Musik“-Bewegung auch in Griechenland gibt.
Cencics zweite Arie aus Hasses „Il trionfo di Clelia“ („Dei di di Roma“) gibt nota bene Gelegenheit, seine Interpretation mit der eines Fachkollegen zu vergleichen, denn sie wird auch von Bejun Mehta in seinem Recital „Che puro ciel“ berücksichtigt. Was vor einiger Zeit bei der Wiederbelebung von Vincis „Artaserse“ schlüssig nachgewiesen wurde: beim Singen mit Kunststimme sind nahezu gleich viele Timbreunterschiede festzustellen wie bei „normalen“ Sängern. Cencic offeriert bei der genannten Arie eine relativ dunkle Stimme, gibt sich überdies dramatisch noch vitaler als Mehta, der freilich seinerseits ein außerordentlich expressiver Interpret ist. Bei „Che puro ciel“ aus Glucks „Orfeo ed Euridice“, Titel auch der gesamten Anthologie, könnte man sich freilich ein Organ von stärkerer Süße vorstellen. Aber grundsätzlich verbindet Mehta glücklich theatralisch impulsives Singen mit einem vokalen Ideal, welches im 19. Jahrhundert die Bezeichnung Belcanto erhielt. Das geht über die barocke Affektsprache weit hinaus, und nicht von ungefähr wird im Booklet Mehtas Ariensammlung als “Der lange Abschied der Opera seria“ untertitelt. Am “Zielende“ stehen die Namen Gluck und Mozart. Musikalischer Aufbruch ist zuvor jedoch außer bei Hasse auch schon beim Bach-Sohn Johann Christian sowie bei dem derzeit auch auf der Bühne häufiger wieder berücksichtigten Tommaso Traetta zu spüren. Bejun Mehtas engagiertes Singen würde freilich nur die halbe Wirkung haben, stünde ihm nicht die Akademie für Alte Musik Berlin unter René Jacobs zur Seite. Der Dirigent schleudert geradezu Blitze.
Ganz auf Leonardo Vinci konzentriert ist Filippo Mineccia bei seinem ersten Solo-Recital, ohne allerdings den vorhin erwähnten „Artaserse“ zu berücksichtigen. Ob es sich bei einzelnen Arien um CD-Premieren handelt, wird nicht mitgeteilt, darf aber vermutet werden. Unter ihnen ist „Chi mi priega“ aus dem „Oratorio per la Vergine del Rosario“ mit dem langen Cello-Intermezzo besonders interessant. Obwohl ausgesprochene Koloraturarien in Mineccias Programm enthalten sind, ist es stilistisch abwechslungsreicher als das von Cencic, und die Stimme klingt weicher und runder. Doch wie Cencic kämpft Mineccia ein wenig in der Höhe und ist auch in der Tiefe nicht ganz sattelfest. Die Booklet-Fotos zeigen den Künstler mehrfach als „jungen Wilden“, was sich auf der Bühne vielleicht günstig auswirkt. Den Sänger möchte man einstweilen nicht letztgültig beurteilen.
Anders verhält es sich mit Iestyn Davies. Er stammt aus dem Heimatland Alfred Dellers, dem Bahnbrecher im Counter-Singen. Auf seiner jüngsten CD widmet sich Davies Oratorien Händels, die dessen Opern stilistisch allerdings meist sehr nahe stehen. Opernhaft temperamentvoll ist in dem Recital jedoch eigentlich nur eine Arie aus „Alexander Balus“, alle anderen Musiknummern verharren meist in weicher Lyrik. Das gibt freilich Gelegenheit, die schöne, samtig weich ausschwingende Stimme des Sängers zu genießen, die ohne Registerbruch in die oft geforderte Tiefe zu wechseln weiß. Nicht von ungefähr nennt sich die CD „Your tuneful voice“. Mit Sicherheit ist mit dieser Händel-Kollektion das Ausdrucksspektrum von Iestyn Davies nicht ausgeschöpft. Vielleicht liefert seine nächste Aufnahme Kontraste nach. Das King’s Consort unter Robert King begleitet stilversiert.
Heiteres Finale: „Tonight - Welthits von Berlin bis Broadway“. Ausnahmsweise interessiert der Dirigent zuerst. Christian Thielemann mit „Berliner Luft“ und „Fascinating Rhythm“? Aber er kann’s. Selbst für Hans Knappertsbusch gingen „Parsifal“ und „Bad‘ner Madl‘n“ ja durchaus Hand in Hand. Bei Thielemann handelt es sich aber wohl auch um eine Hommage an seine derzeitige Wirkungsstätte Dresden (Staatskapelle), wo er sich schon mal Extras gönnt. Die gute Laune des Silvesterkonzerts von 2013 kommt auch auf CD rüber. Dennoch muss angemerkt werden, dass die Stimmen von Renée Fleming und Klaus Florian Vogt nicht wirklich zusammen passen (besonders deutlich bei Irving Berlins „Annie get your gun“). Hier die amerikanische Show-Diva, dort der liebenswürdige „Wandergesell“ Eduard Künnekes. Von dem großartigen Komponisten steuert das Orchester übrigens auch das hinreißende Intermezzo aus der „Tänzerischen Suite“ bei.