"Eine Kuscheltour war es nie"
Was ein "Spektakel" in der Stadt mit altehrwürdigem Kaiserdom im rheinland-pfälzischen Wonnegau anrichten kann, dokumentiert dieser bemerkenswert ansprechende Bild- und Textband. Konzipiert zwar zum Abschied von Filmemacher Dieter Wedel als langjähriger, prägender Intendant der Festspiele am Ende dieser Saison (18. Juli bis 3. August 2014), ist er viel mehr als eine Hommage an den "feuerspeienden Tyrannen" (Pressereferentin Monika Liegmann), den "gelernten und gefürchteten Perfektionisten, den verehrten Hexenmeister der Fernseherzählung" (Ex-ZDF-Intendant Markus Schächter). Als "ein Naturereignis" hat ihn der Spielmann-Darsteller Markus Majowski erlebt, als "ein Leittier mit einem Händchen, ein Team zusammenzubringen" die Kostümbildnerin Ella Späte. "Eine Kuscheltour war es nie" konstatiert die Dresdnerin mit der herzhaften Freimütigkeit, die viele der Beiträge von Mitarbeitern aller Ressorts auszeichnet, und die von der temperamentvollen, intensiven, familiären Arbeitsatmosphäre beredtes Zeugnis ablegen. Selten wird es pathetisch oder gestelzt in den meist kurzen Promi-Statements, persönlichen Erinnerungen und Interviews, geführt von den wackeren Organisatoren Sabine Bayerl, Petra Simon und Joern Hinkel, die für Konzept und Lektorat des Buchs verantwortlich zeichnen. "Ein sehr guter Intendant" sei Wedel gewesen, fasst Christian Quadflieg Wedels Festspiel-Intendanz in Worms zusammen. Für seinen Nachfolger Nico Hofmann, den Fernsehregisseur, Produzenten und Autor, habe er "das Feld bestens bestellt".
Viele Male hat die Nibelungenstadt am Rhein versucht, ihre mythologische Historie besser "auszuschlachten". Mario Adorf machte das Manko zum Thema eines Vortrags. Gemeinsam mit drei anderen entwarf er das Konzept für die Festspiele und wirkte in den ersten beiden Jahren als Darsteller des Hagen mit. Schauspielautor Moritz Rinke schrieb den umstrittenen, ironisch distanzierenden Nibelungen-Text (als "Märchenkomödie") für die Eröffnung 2002. Dieter Wedel führte Regie. John von Düffel war Dramaturg. Der hochgerühmten Inszenierung von Hebbels Trauerspiel durch Karin Baier in der Fassung der Regisseurin mit Joachim Lux, die das Attribut "deutsch" demonstrativ rot durchkreuzte, steuerte Rinke mit Siegfrieds Frauen und Die letzten Tage von Burgund Dramen über zwei weitere Aspekte der Sage bei. 2009 folgte von Düffels Das Leben des Siegfried im Stil eines antiken Satyrspiels.
Die Wirtschaftskrise schien das Ende der Festspiele zu bedeuten. Aber Wedel überzeugte die Stadtväter vom Weitermachen mit seiner Text-Collage Teufel, Gott und Kaiser - Improvisationen über eine Zeit, in der das Nibelungenlied entstand und der geradezu demonstrativen Unterstützung so namhafter Schauspielkollegen wie Meret Becker, Roland Renner, Heinz Hoenig, Dirk Bach und Anouschka Renzi. 2011 dann wagte er mit der Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß, gefolgt 2012 von Das Vermögen des Herrn Süß die viel diskutierte thematische Ausweitung des Programms über die Nibelungen hinaus in die allgemeine deutsche Geschichte hinein. Im vorigen und diesem Jahr schließt er den Kreis seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Mythos in Worms mit eigenen Bearbeitungen des Nibelungen-Klassikers von Friedrich Hebbel (Hebbels Nibelungen - born to die und Hebbels Nibelungen - born this way).
Mit dem begleitenden Kulturprogramm sorgte Wedel schon früh dafür, dass die Bürger der Stadt einbezogen werden, Jugendliche auch als Komparsen für das Theater begeistert werden. Wie Markus Majowski richtig beobachtet hat: "Wedel hasst Mittelmaß, in jeder Beziehung". Der gebürtige Wormser Schauspieler André Eisermann, von Beginn an Mitglied des Ensembles, gesteht ein, dass er erst durch die Festspiele begriffen habe, dass er in der Nibelungen-Stadt aufgewachsen sei und es sich jetzt "gut anfühlt in Worms", wenn er nach kurzer Stille im Dom direkt durch das mächtige Portal die Spielfläche betrete.
Dieses Buch plaudert herzerfrischend unverstellt, leidenschaftlich und ausgesprochen interessant aus dem Nähkästchen von Theaterleuten, hinterfragt den deutschesten Mythos, diskutiert die thematische Ausweitung der Festspiele und trägt in vielfacher Weise dazu bei, über Deutschland und deutsche Geschichte mit allen Ups and Downs zu reflektieren. Es ist mehr als Lobhudelei für ein "Spektakel" im bunten Festivalzirkus oder Bauchpinselei eines genialen, kreativen, schwierigen Künstlers.