Große Stimmen, neue Stimmen
Subjektive Auswahl, sehr subjektive Empfehlungen von im letzten halben Jahr erschienenen Sänger- und Lied-CDs
Der Herbst ist Erntezeit, auch auf dem CD-Markt. September und Oktober sind die beliebtesten Monate für Neuveröffentlichungen. Die Kundschaft denkt bereits vage an Weihnachten und die Presse hat noch genug Zeit die Neuigkeiten bis zum Fest der Geschenke wahrzunehmen und entsprechend zu verbreiten. Die drei zur Zeit verkaufsträchtigsten Gesangsstars brachten folglich ihre neuen Alben zu dieser Zeit auf den Markt: Cecilia Bartoli setzte ihre Entdeckungsreise auf der Suche nach prähistorischer Belcantomusik in Petersburg fort (Decca), Jonas Kaufmann versuchte sich mit Du bist die Welt für mich (Sony) an Operetten- und Tonfilmschlagern der 30erJahre und der Countertenor Philippe Jaroussky beendete sein Sabbat-Jahr mit einer Vivaldi-CD (Warner). Dazu stießen im Liedbereich Matthias Goerne mit der Winterreise, die seinen Schubert-Zyklus bei Harmonia Mundi beschließt und Anna Netrebko, die sich an Strauss‘ Vier letzten Liedern ausprobierte.
Keine dieser CDs ist misslungen – und keine ist ein großer Wurf. Jaroussky setzt Stilgefühl und die Zaubermacht seiner so ungewöhnlich timbrierten Stimme kundig ein, aber die letzte Faszination bleibt aus, wie bei Goerne, der die Größe des Kunstwerks intensiv beglaubigt, aber einen nicht wirklich mitnimmt auf die Reise durch den Winter, zumindest mich nicht wirklich berührt. Anna Netrebko hat durchaus die Stimme für Strauss, ja, wohl für das ganze „deutsche Fach“, aber einstweilen noch nicht das Rüstzeug, den Kampf mit der deutschen Sprache erfolgreich gestalten zu können. Ihre wunderbar gespannten, verführerisch dunkel schillernden Bögen kommen sinnleer daher, mit kaum differenziertem, manchmal sogar kaum spürbaren inhaltlichem Ausdruck. Bei Cecilia Bartoli ist es die Macht der Gewohnheit, die den großen Genuss hemmt. Zu wenig unterscheidet sich das hier gesungene Repertoire ästhetisch und musikalisch vom grandiosen Sacrificium oder dem Steffani-Album Mission, auch wenn die Diva erstmals russisch singt. Und Jonas Kaufmann? Die stimmlichen Mittel sind sehr beeindruckend, die technische Beherrschung der Stimme ist stark verbessert, aber das Repertoire scheint ihm fremd geblieben zu sein. Leichtigkeit, Ironie, Augenzwinkern, den sardonischen Charme der Verführung – das alles hört man maximal ansatzweise.
Und doch gab es sie im Herbst und Winter, die Sänger-Alben, die einen auf den ersten Sitz verzaubern, die einen nicht loslassen, die man meines Erachtens unbedingt hören muss, oft auch wegen des ungewöhnlichen, sogar neuen Repertoires. Karen Vourc‘h etwa, die jüngst als Einspringerin in der Titelrolle von Debussys Pelleas und Melisande in der Kölner Philharmonie das Publikum begeisterte, hat eine CD mit Musik von Kaija Saariaho vorgelegt (Ondine), auf der sie einen kurzen Liederzyklus und ein Monodrama der in Paris lebenden finnischen Komponistin interpretiert. Die ungewöhnlich timbrierte, wächsern überglänzte Stimme reißt den Hörer ganz unmittelbar an sich, führt ihn mit vor Intensität berstenden Introvertiertheit durch Saariahos Klangkristalle und –flächen, deckt dabei den ganzen Bereich zwischen Sprechen und sich romantisch aufschwingendem Singen ab. Ein kleiner, intimer dimensioniertes Projekt sind die „Klopstock-Lieder“ mit Wolfgang Holzmair (Gramola). Der hell timbrierte österreichische Bariton stellt Lieder von Schubert, Gluck und C.P. Bach nebeneinander, teilweise mehrere Vertonungen desselben Klopstock-Gedichtes. Wunderbar an dieser CD sind nicht nur Holzmairs nach bald 40jähriger Karriere immer noch schmelzend leichter Tonansatz und sein weder Pathos noch Ironie scheuender Zugriffs auf Klopstocks aus heutiger Sicht extrem abgedrehte Sprachbilder. Vor allem bricht der Bariton, assistiert von der jungen Sopranistin Stefanie Steger, eine Lanze für den Komponisten Gluck, der mit seiner insistierenden Schlichtheit, seiner konzentrierten Ästhetik des Weglassens Klopstocks Sprache deutlich am ehesten gerecht wird. Noch besser gefällt mir eine CD des irischen Tenors Robin Tritschler, der bei uns allenfalls durch seine Auftritte bei der Ruhrtriennale bekannt ist. Seine CD No Exceptions, no Exemptions (Signum) ist für mich eindeutig die CD des Winters. Das Doppel-Album enthält größtenteils unbekannte Lieder von Komponisten, die unmittelbar am Ersten Weltkrieg beteiligt waren. Auf der ersten CD kommen, mit einer Ausnahme, sogar ausschließlich Komponisten zu Wort, die im Krieg gefallen sind. Neben Liedern von Debussy, Roussel oder Prokoffieff macht man eine Unzahl von wirklich hörenswerten Entdeckungen, unter denen ein kurzer Liederzyklus von Rudi Stephan und zwei Shakespeare-Vertonungen von Benjamin Dale herausragen. Tritschler singt nah am Wort, mit einem Ohr für melodische Miniaturen und genau mit der richtigen Mischung aus Emphase und Zurückhaltung. Schlicht: ein Wunder.
Überraschend viel Prominentes gibt es im März. Valer Sabadus kommt mit Kastraten-Arien von Mozart und zeigt erneut, dass er wohl der phonogenste Countertenor unserer Zeit ist. Die Mittellage schimmert dunkel und ist von seltener Biegsamkeit. Die eher schmal ausgeprägten Höhen- und Tiefenregionen muss er hier nicht oft ansteuern. Philippe Jaroussky hingegen hat viel riskiert mit seinem ungewöhnlichen Projekt Green (Warner). Er interpretiert Vertonungen von Verlaine-Gedichten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 50erJahre des 20., ein höchst ungewöhnliches Repertoire für seine Stimmlage. Nicht alles ist toll, Cahrles Trenet höre zumindest ich nicht gerne so, in doppelter Hinsicht, überhöht, aber vieles ‚sitzt‘ melancholisch, elegant und mit großer Leichtigkeit, besonders die Stücke im Zusammenspiel mit dem Quatuor Ebene. Auch Diana Damrau kommt mit einer neuen CD. Fiamma di Belcanto (Warner) zeichnet den historischen Weg des italienischen Gesangs von Bellini bis Leoncavallo nach. Gesangstechnisch ist das mit Sicherheit eine der besten CDs der letzten Jahre. Zumal bei Bellini – und auch beim jungen Verdi – kann man sich kaum lassen vor Begeisterung und Miterleben. Nur Traviata und Nedda befremden ein wenig, sind viel Kunst und wenig Mensch. Sängerkönig des Frühjahrs ist überraschend nicht Piotr Beczala, dessen neues Album (Deutsche Grammophon) kompetent, aber ein wenig sachlich klingt, in der Emphase sogar etwas matt, sondern eindeutig Brian Hymel. Sein Debutalbum Heroique (Warner) besticht nicht nur durch mächtige und bildschöne, stets aus der Gesangslinie entwickelte Spitzentöne. Der Mann kann wirklich singen, findet für jede der gesungenen französischen Heldenpartien einen eigenen Stimmcharakter und gestaltet auch Hässlichkeit intensiv mit bildschöner Stimme. Das beste Tenor-Album seit langer Zeit.
P.S. Wer auch gut singen kann, ist die Geige. Wenn Sie den Kunstgesang mögen, hören Sie doch mal in Frank Peter Zimmermanns frisch erschienene CD mit Mozart-Konzerten rein (Hänssler Classic) – ein frischer, singender Traum! Und wenn Sie es lieber liedhaft mögen, empfehle ich die neue CD von Nurit Stark (Claves). Sie spielt Viola fast so gut wie Violine und schafft es so, Clara Schumanns herrlich gespielte Romanzen und Robert Schumanns Märchenbilder auf einer CD zu vereinen, in harmonischer Partnerschaft mit dem Pianisten Cedric Pascia. Ein wunderbares Ostergeschenk, auch wenn die CD eigentlich prädestiniert zu sein scheint, mit ihrer heiteren Melancholie im Herbst Trost zu spenden, wenn es dunkel wird und die Blätter fallen.