Übrigens …

Geständnishafter Blick

62 Jahre alt ist er und es wurde auch Zeit, dass dieser große Dirigent, vielfach prämiert und ausgezeichnet, Grundsätzliches über Musik und bestimmte, von ihm favorisierte Komponisten der Musikgeschichte sagt. Riccardo Chailly stellte sich dem Journalisten Enrico Girardi für ein Langzeit-Interview. Wenige Fragen wurden an ihn gerichtet – aber der Italiener nutzt die Gelegenheit für einen geständnishaften Blick auf die Musikpolitik im 20. Jahrhundert, auf Genies wie Bach, Brahms, Bruckner, Mahler oder auch seine bedeutenden Landsleute Verdi, Puccini und Rossini. Es lohnt sich, seine Ausführungen zu lesen, weil sich eine Liebeserklärung dahinter verbirgt.

Ein paar Daten aus der Chailly-Biografie: geboren 1953 in Mailand, wehrte sich der Vater Luciano (Komponist und Musikmanager) zunächst gegen den Wunsch seines Sohnes, Musiker zu werden. Aber als dieser sich mit größtem Eifer auf das wissenschaftliche Fundament der Musik stürzte und einige strenge Tests in diesem Fach bestand, förderte er ihn. Riccardo Chailly studierte an den Konservatorien und Musikakademien in Mailand, Perugia und Siena, wurde Assistent von Claudio Abbado an der Scala, debütierte 1972 als Operndirigent in Mailand (Massenets Werther). Dann ging es Schlag auf Schlag: USA-Debüt in Chicago (1974), ab 1977 Leiter von Hans Werner Henzes Cantiere Internazionale in Montepulciano, Scala-Debüt mit Verdi (1978), 1980 Debüt bei den Berliner Philharmonikern, von 1982 bis 1989 Chef des Radio-Sinfonieorchesters Berlin (heute: Deutsches Symphonie-Orchester), von 1983 bis 86 Principal Guest Conductor beim London Philharmonic Orchestra, 1986 bis 1993 Musikchef in Bologna, von 1988 bis 2004 Chefdirigent des Concertgebouw Orchestra in Amsterdam, von 1999 bis 2005 Musikdirektor des Orchestra Sinfonica di Milano G. Verdi, ab 2005 GMD in Leipzig (Gewandhausorchester), ab 2015 Musikdirektor der Mailänder Scala…

Über Johann Sebastian Bach („Er übt eine verführerische Macht auf mich aus“) sagt er beispielsweise: „Bach verkörpert die Grammatik, die souveräne Beherrschung der Instrumentation im Dienste der Inspiration. Auch wenn man seine Werke für Kopfgeburten halten könnte: Seine Musik ist immer und vor allem grandiose Musik.“

Über Johannes Brahms: „Auch wenn Brahms als ein grundsolider und bodenständiger Komponist gelten mag, so weicht er doch regelmäßig dem Vorhersehbaren aus und bemüht sich darum, die Eindeutigkeit des Taktes zu verschleiern und dadurch den Zuhörer zu überraschen… Brahms hat vieles von Robert Schumann übernommen.“

Über Gustav Mahler: „Jedes Mal, wenn ich die 10. von Gustav Mahler dirigiere, bin ich hinterher völlig ausgelaugt von dem permanenten Gefühl der Rastlosigkeit, das sich erst gegen Ende im Adagio-Finale beruhigt, wenn sich 60 Streicher zu einem Schrei der Verzweiflung aufschwingen, der den Zuhörer bis ins Mark erschüttert – erschüttert und zugleich entwaffnet.“

In diesem privaten, intimen Stil geht es bei dem Gespräch durch die Musikgeschichte, gespiegelt durch das persönliche Verhältnis des Dirigenten. Chailly spricht geschliffen und hinreichend rhetorisch geschult, wenn es sich denn bei dem Frage-Antwort-Rhythmus um authentisch-konkrete Stellungnahmen handelt. Auch subjektive Kommentare zur Avantgarde (Nono, Berio, Varese, Boulez) verlängern den „mainstream“ in das 20. Jahrhundert hinein. Nachdenkenswert sind Chaillys Meinungen, auch allgemein zum Opern- und Konzertbetrieb der Gegenwart, allemal. Dass er in seinen Überlegungen seinen Landsmann Giacomo Puccini gegen Verflachung der Libretti und „schlichten“ Kitsch verteidigt, ist ihm positiv anzurechnen. Er stimmt also nicht in den Chor der Puccini-Lästerer ein.