Der Abschied von Romantik-Idealen
In Deutschland gilt er als „der“ finnische Nationalmusiker: Jean Sibelius. Vor allem, nachdem seine Komposition Finlandia 1900 uraufgeführt wurde – eine herbe Hymne auf das Land, seine Heimat, die Menschen, die Mythen. Er ist jedenfalls der „Mahler Skandinaviens“ – ein „erratischer Block“ (Herbert von Karajan) am Ausgang des 19. im Übergang zum 20. Jahrhundert. Der ehemalige Student von Lehrern wie Martin Wegelius oder Karl Goldmark nahm jedoch viele gesamteuropäische Einflüsse auf. Er verarbeitete sie so, dass daraus eine wahre Nationalschule hervorging. Die Finnen, deren Land so lange besetzt war und die eine Selbstbestimmung herbeisehnten, hatten endlich eine Identifikationsfigur. Sibelius kam für seine Heimat also „wie gerufen“.
Volker Tarnow, Musikwissenschaftler und Philosoph, zeigt nahezu alle Seiten dieses ungewöhnlichen Komponisten, dessen sieben (je nach Zählweise: auch acht) Sinfonien, seine Orchester-Legenden und -Suiten, seine Sonatinen für Klavier eine durchaus originäre Meisterschaft zwischen melancholischer Melodie und großer Erzählkraft dokumentiert. Parallel zu seinem europaweiten Wirken (in London, Kopenhagen, Berlin, Paris u.a.) musste er die Kämpfe um die finnische Nationalität erleben. Das war sicherlich einer der Gründe, dass Sibelius fast ein Leben lang gegen Schulden ankämpfte. Zusätzlich rissen immer wieder private Krisen (Tod der Tochter Kristi 1900, OP an einem Halstumor 1908, Tod des geschätzten Bruders Kitti 1922 beispielsweise) ihn aus der (auch finanziellen) Erfolgsspur als Komponist und Dirigent.
Befreundet war Sibelius, der das Klavier- ebenso wie das Violinspiel erlernte, mit Ferruccio Busoni, Gustav Mahler oder Walter Stenhammar – Musikpartner von Rang. Der zunächst schwedischsprachige Sibelius genoss durchaus die Berliner Bohème, blieb aber im Grunde seines Herzens und seines Naturells ein ziemlich schweigsamer, grübelnder, skeptischer, auch zuweilen depressiver Nordländer. Nur in den 30er/40er Jahren frönte er, endlich schuldenfrei, dem Typus des integren, großzügigen Nationalhelden… Zu seinen Lebzeiten half ihm besonders Busoni mit Kontakten zu Orchestern und Dirigenten. Noch wichtiger fürs Private und für das Berufliche (!) wurde jedoch seine Frau Aino (Järnefelt), die ihm zuliebe auf eine Karriere als Pianistin verzichtete. Sie gebar ihm sechs Kinder: „Aino als Hüterin des Hauses, Jean als aushäusiger Weltmann“ – so charakterisiert Biograf Tarnow die Ehe.
Was das Buch spannend und in gewisser Weise auch „neu“ macht, sind die Ein- und Zuordnungen Sibelius´ in die europäische Musikgeschichte: Wie lebte er in der „Konkurrenz“ von Mahler, Bartók, Strawinsky, Strauss, Debussy oder Schönberg, wo begegneten sie sich, wie grenzten sie sich ab – durch Kontakte, durch Orchesternähe, durch biografische Zickzack-Wege, durch die Suche nach der „letzten Idee“ in der sinfonischen oder allgemein musikalischen Landschaft. Fast beiläufig setzte sich Sibelius bei seinen Entwicklungsschritten von der Spätromantik ab. Er tastete sich in die Moderne vor – ohne dass er zum Traditionsverleugner oder gar zum Sinfonie-Zerstörer wurde. Sibelius brachte beides zusammen: Historie und Moderne, gefiltert durch die skandinavische Musiksprache.
Heute wird er weltweit geachtet. Simon Rattle: „Eine der fünf oder sechs größten Sinfoniker überhaupt.“ Herbert von Karajan: „Er ist für mich der zeitloseste Komponist. Seine Musik lässt sich in kein Schema und keinen überkommenden Stil fassen.“ Otto Klemperer: „Er schuf mit klassischen Mitteln eine völlig neue Musik.“ Sibelius´ Schaffen hinterließ in Skandinavien Nachhaltigkeit. Finnland gilt längst als Musterland für Neugründungen bei Orchestern. Und finnische Dirigenten zählen zu den gefragten Pultstars zwischen New York und Tokio. Und bei den Komponisten? Da wird das harmonisch Kühne, die intelligente Struktur, die nach innen glühende Vitalität geschätzt. Sibelius kann somit durchaus weiter in den internationalen Fokus rücken…
Was sein Verhältnis zu Nazi-Deutschland anbelangt, gibt es Ungereimtheiten. Tarnow bemüht sich um eine gerechte Beurteilung aus der Sicht der finnischen Geschichte. Und deren damit verbundenen Traumata.
Vielleicht passt in diesen Zusammenhang, dass Sibelius seine 8. Sinfonie (um 1931/32) nicht vollendete und nicht für die Öffentlichkeit freigab. Sie bleibt ein Mysterium. Typisch Sibelius.