Eine diskografische Bestandsaufnahme
In dem jüngst erschienenen Buch Kunst der Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität wird ausführlich über das strittige Thema E/U-Musik referiert. Mit dabei ist ein Text von Barrie Kosky, welcher als Intendant der Komischen Oper Berlin der Operette seit einiger Zeit nachhaltige Impulse gibt. Koskys Engagement und – vorausgehend – die Publikationen von Volker Klotz haben dem vielfach abschätzig betrachteten Genre neue Impulse gegeben und seine subversive Energien betont. Zur endgültigen Rehabilitierung gehören freilich vor allem Sänger, welche vokal wie darstellerisch dieses Potential umzusetzen wissen.
Zu ihnen wird man Rudolf Schock nicht unbedingt zählen wollen. Er war von seinem Naturell her eher ein Lehár-Tenor, Richard Tauber vergleichbar, mit dem er ja auch oft in Beziehung gesetzt wurde. Dennoch hat er der Operette große Dienste geleistet und steht damit nicht alleine. Wenn man alleine den Tenorbereich betrachtet… Tauber wurde bereits genannt, auch Fritz Wunderlich hatte keine Berührungsängste, ein Nicolai Gedda sprach sich ausdrücklich für die Operette aus. Und dem „gefälligen“ Repertoire ebnete neben der Schallplatte zunehmend auch das Fernsehen die Wege. Rudolf Schock ließ sich da nicht zweimal fragen.
Die frühere Vertragsfirma des Sängers (Electrola, heute in Nachfolge Warner) hat zum hundertsten Geburtstag des Sängers im vergangenen August Oper- und Operetten-Querschnitte aus den fünfziger Jahren wiederaufgelegt. An dieser Stelle sei - mit Bitte um Nachsicht für die Verspätung dieser Hommage – auf andere Veröffentlichungen hingewiesen, welche die Vielseitigkeit Rudolf Schocks höchst eindrucksvoll demonstrieren. Das Label „Documents“ ist auf die Verwertung von Rundfunkproduktionen und Livemitschnitten spezialisiert, es veröffentlicht mit schöner Regelmäßigkeit Künstlerporträts in Form von 10-CD-Kassetten, auch aus dem Bereich der Instrumentalmusik. Der äußerst niedrige Preis lässt eine üppige Ausstattung nicht zu, aber die auf Papphüllen gedruckten Informationen sind dokumentarisch völlig ausreichend.
Die jüngsten Rudolf-Schock-Editionen bei „Documents“ heben – fraglos im Sinne einer „Wiedergutmachung“ – vor allem den Opernsänger hervor. Für diesen boten nicht zuletzt die Werke Wolfgang Amadeus Mozarts ein weites Betätigungsfeld, Richard Wagner spielte in seinem Repertoire hingegen eher eine Nebenrolle. Doch wirkt dieser editorische Schwerpunkt reizvoll. Noch belangvoller aufgrund seltener und kaum bekannter Einspielungen ist die Kassette „Rudolf Schock - Nachklang einer geliebten Stimme“, die zwar bereits 2012 erschien, aber an dieser Stelle unbedingt noch Berücksichtigung finden sollte.
Für einen lyrischen Tenor ist selbst bei Möglichkeiten zur dramatischen Expansion das Wagner-Repertoire begrenzt. Im italienischen Fach hat Rudolf Schock mal Verdis Otello angetippt, aber nur mit dem belcantesken Liebesduett und nur im Plattenstudio (mit Elisabeth Grümmer). Auch der Stolzing in Wagners Meistersingern geht über Lyrisches weit hinaus, war für Schock also durchaus eine Risiko-Partie. Das macht die Gesamteinspielung mit den Berliner Philharmonikern unter dem animierenden Rudolf Kempe durchaus hörbar, obwohl das Aufnahmejahr 1956 in die beste Zeit des Sängers fällt und sein nur zwei Jahre zuvor aufgenommener Bacchus in Ariadne auf Naxos von Richard Strauss (neben Elisabeth Schwarzkopf und unter der Stabführung von Herbert von Karajan) glorios ausfiel. Aber Schocks Stimme verfügte über ein gewisses Narkotikum, welches ihn für den leicht aufbrausenden Frankenritter ein idealer Rollentyp sein ließ. Und Wieland Wagner, der ihn 1959 in dieser Partie nach Bayreuth engagierte, besetzte, wie man weiß, nicht ausschließlich nach vokalen Kriterien, sondern achtete vor allem auf eine angemessene Bühnenpräsenz. Die vom Bayerischen Rundfunk übertragene Premiere (Dirigent: Erich Leinsdorf) ist auf CD greifbar; Ausschnitte gibt es in „Nachklang einer Stimme“. Auch in Bayreuth war Elisabeth Grümmer Schocks ideale Partnerin. Die Kempe-Einspielung wartet weiterhin mit Ferdinand Frantz als Hans Sachs auf, einem führenden Wagner-Sänger jener Jahre. Benno Kusche „macht“ etwas zu viel aus dem verklemmten Beckmesser, ideal hingegen sind Marga Höffgen als Maddalena und Gerhard Unger als David. Der junge Hermann Prey tönt als Nachtwächter. Ferdinand Frantz, nach 1945 sozusagen Wotan vom Dienst, gab diese Partie auch 1952 in einer Rheingold-Gesamtaufnahme beim Nord(west)deutschen Rundfunk (unter dem vielseitigen Wilhelm Schüchter, Dirigent vieler Electrola-Aufnahmen Rudolf Schocks), bayreuthwürdig besetzt (trotz dem schwachen Fasolt von Gottlob Frick). Schock strahlt als Froh, wo immer es geht („Zur Burg führt die Brücke“). Schade, dass man sich (um den 10-CD-Umfang einzuhalten) nicht für die Gesamteinspielung entschloss. Aber die gewählten Szenen gereichen Rudolf Schock zur Ehre, und das ist ja der primäre Sinn dieser Edition.
Der Froh war übrigens Schocks überhaupt erste Wagner-Bühnenrolle (Duisburg 1936; in diesem Jahr wirkte der junge Sänger auch im Bayreuther Festspielchor mit). Den Lohengrin verkörperte er unter anderem an seinem späteren Stammhaus Hamburg und nahm die Oper 1953 am dortigen Rundfunk auch für die Schallplatte auf. Sein Gesang verbreitet trotz leichter Höhenschwierigkeiten auch hier wahrlich „Glanz und Wonne“. In Maud Cunitz erlebt man eine sehr frauliche Elsa. Gottlob Frick ist auch als König Heinrich kaum mehr als mittelprächtig, während Margarete Klose (Ortrud) durch ihre Persönlichkeit vokale Anstrengungen unschwer kompensiert. Imposant der kernige Telramund Josef Metternichs.
Als Daland in dem von Franz Kowitschny dirigierten Fliegenden Holländer macht Frick eine bessere Figur. Marianne Schech ist eine glaubhafte Senta, Dietrich Fischer-Dieskau ein zerrissener Titelheld mit intellektueller Diktion. Auch wenn Rudolf Schocks Karriere danach noch lange andauerte: 1960 stand mit Fritz Wunderlich (Steuermann) eine neue Tenor-Generation unwiderruflich ante portas. Umso erfreulicher, dass Rudolf Schock den unglücklich liebenden Erik nahezu anstrengungslos und mit großer Verve interpretiert.
Als lyrischer Tenor besetzte Rudolf Schock naturgemäß umfänglich das Mozart-Fach, schon vor Nicolai Gedda und Fritz Wunderlich, aber teilweise auch gleichzeitig mit ihnen. So ist es durchaus logisch, dass die zweite Schock-Kassette von Membran Einspielungen aus diesem Repertoire bündelt. Schock besaß so etwas wie eine „Träne“ in der Stimme, ohne dass sein Gesang deswegen sentimental wurde. Davor bewahrte den Sänger zumal der frühen Jahre alleine sein Stilempfinden, auch wenn diese Qualität dem Sänger manchmal abgesprochen wurde, weil man ihm seine in der Tat seichte Spätkarriere nicht zu verzeihen gewillt war. Weibliches Parallelschicksal: Anneliese Rothenberger. Schock und Mozart. Der Figaro enthielt natürlich keine Fachpartie für ihn, den Titus hatte der Sänger nicht im Repertoire, und der Ottavio, zwischen 1955 und 1960 in einigen (zum Teil nur vereinzelten) Vorstellungen an der Wiener Staatsoper gesungen, ist nicht vollständig erhalten. Membran bietet eine 1950 entstandene Funkaufnahme von „Il mio tesoro“, wo Orchester und Dirigent allerdings nicht bekannt sind. So verbleiben an nachprüfbaren Komplett-Partien Belmonte, Idomeneo, Ferrando und Tamino. Den Belmonte verkörperte Rudolf Schock noch 1975, also als Sechziger, Hinweis darauf, dass er neben seiner verstärkten Hinwendung zur Popularmusik die Oper nie gänzlich aufgab. Über ein von Fried Walter geleitetes Recital von 1978 (unter anderem mit Hüon, Siegmund, Wolfram (!) und einer rekonstruierten Arie aus Paul Klenaus Rembrandt van Rijn) sollte man freilich besser den Mantel des Schweigens breiten.
Die Produktion der Entführung aus dem Serail beim NDR unter dem dort regelmäßig wirkenden, kompetenten Hans Schmidt-Isserstedt stammt dem Jahr 1954, also nicht lange nach seinem Electrola-Querschnitt mit Erna Berger. Man muss (nicht nur) für diese Rundfunkeinspielung dankbar sein. Sie kompensiert so manches, was die dem Sänger eigentlich sehr gewogene Phonoindustrie versäumte. Schock erfreut mit einem jungmämnnlichen Porträt des Belmonte, tadellos gesungen, auch wenn die zuvor schon angesprochenen Höhenprobleme sich auch hier punktuell bemerkbar machen. Als Konstanze agiert Teresa Stich-Randall virtuos, im Timbre etwas gläsern. Der seinerzeit in Bremen engagierte Theodor Schlott gibt einen profunden Osmin ab. Das Blondchen ist für Emmy Loose eine Grenzpartie, Murray Dickie (Pedrillo) kam über Zweitklassigkeit eigentlich nie hinaus. Die gilbigen Dialoge werden von Schauspielern gesprochen, wie es in frühen Rundfunkjahren häufig Praxis war. Hermann Schombergs köstlicher Osmin erfreut trotzdem.
Auch den Ferrando gibt Rudolf Schock lyrisch kultiviert und sehr edelmännisch. Beim NDR bereits 1953, neuerlich unter Schmidt-Isserstedt (aus dieser Gesamteinspielung drei Bonus-Szenen). Sein Partner als Guglielmo war Horst Günter auch vier Jahre später in der Gesamteinspielung des Bayerischen Rundfunks unter der erstaunlich forschen Stabführung Eugen Jochums. Die vielseitige Annelies Kupper gibt eine sehr präsente Fiordiligi, die spätere Lamento-Farbe Hertha Töppers wirkt bei der Dorabella noch nicht ganz ausgeprägt, Erika Köths durchtriebene Despina bestrickt. Auch Walter Berry lässt mit seinem Alfonso sofort den geborenen Komödianten erkennen.
Der Idomeneo von Rudolf Schock dürfte eine exklusive Salzburg-Partie gewesen sein (1956); erfreulich, dass sie dokumentiert ist. In dem jungen Waldemar Kmentt (Idamante) bekommt der Sänger freilich erhebliche Konkurrenz. Der individuell gefärbte Sopran von Christel Goltz ist für den Charakter der Elettra absolut passgerecht. Die sehr helle Ilia-Stimme scheint nicht wirklich Hildegard Hillebrecht zu gehören, gibt es von ihr doch wenig später entstandene Rundfunkaufnahmen, wo das für sie typisch üppige Timbre bereits deutlich ausgeprägt ist. Etwas pauschal wirkt das Dirigat Karl Böhms.
Als Tamino wirkt Rudolf Schock mit dem „italienischen“ Glanz in seiner Stimme besonders überzeugend. Aus dem Jahre 1955 gibt es gleich zwei Aufnahmen der Zauberflöte. Die eine wurde in den Studios des Westdeutschen Rundfunks Köln unter Joseph Keilberth produziert, sängerisch hoch besetzt. Bei den drei Bonus-Titeln hört man beispielsweise Hans Hotter als Sprecher. Josef Greindl ist ein bassgewichtiger Sarastro, Teresa Stich-Randall eine etwas kühle Pamina. Das vollständige Werk wird in der Membran-Kassette als Rundfunkübertragung der Premiere aus der Hamburgischen Staatsoper (16. Oktober, Wiedereröffnung des Hauses) geboten. Das erklärt so manche stumme Passage, welche dem Bühnenspiel geschuldet ist. Leopold Ludwig dirigiert äußerst sachkundig. Hervorragend macht sich die kaum bekannte, mit nur 43 Jahren gestorbene Anne Bollinger als Pamina, Colette Lorand ist eine einwandfreie Königin der Nacht, Horst Günter ein quicker Papageno. Etwas mehlig klingt der Sarastro Arnold van Mills. Als Papagena singt Anneliese Rothenberger wohl eine ihrer letzten „Wurzen“. Köstlich ihr Dialog, den auch Rudolf Schock ganz hervorragend gestaltet.
Die Musikbeispiele der Kassette „Nachklang einer Stimme“ geben auch der Operette maßvoll Raum, teilweise mit Übernahmen aus dem alten Electrola-Repertoire. Hier interessiert nicht zuletzt das Duett Simon/Jan aus Carl Millöckers Bettelstudent, eines der wenigen Beispiele, wo Schock gemeinsam mit seinem potentiellen „Nachfolger“ Fritz Wunderlich zusammen singt. Hervorgehoben sein sollte auch der Ausschnitt aus Eduard Künnekes Die große Sünderin (WDR 1951, Dirigent: Franz Marszalek). Die Partie des Reiteroberst Schrenk, dem Tenor Helge Rosvaenge in die Kehle geschrieben, ist nämlich eine opernhafte Tour de force, welche Rudolf Schock glänzend bewältigt. In Sachen Mozart und Wagner wiederholt sich in dieser Kassette Einiges. Eine separate Bildnis-Arie Taminos wurde 1952 in Genf mitgeschnitten. Etwas mehr ist aus der Salzburger Entführung von 1956 (Dirigent: George Szell) zu hören. Erika Köth, langjährige Partnerin Rudolf Schock, ist die Konstanze, an anderer Stelle (nicht gleichermaßen überzeugend) die Marietta in Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt (München live 1959).
Was Richard Strauss betrifft, durfte der Bacchus in Ariadne auf Naxos nicht fehlen. Das Finale gibt es freilich nicht in der bekannten Londoner Aufnahme unter Herbert von Karajan (in der eigentlich Nicolai Gedda mitwirken sollte), sondern (1955 mit Hilde Zadek in der Titelpartie und Karl Böhm am Pult der Wiener Philharmoniker) aus Salzburg, wo Schock damals „zu Hause“ war. Flamands Sonett erinnert an die Gesamtaufnahme von Capriccio beim Bayerischen Rundfunk 1953. Dirigent Clemens Krauss (auch Mitlibrettist des Werkes) leitete bereits die Uraufführung des Werkes. Für seine Gattin Viorica Ursuleac war die Münchner Gräfin eine ihrer letzten Aufgaben. Ganz rar ist ein Salome-Mitschnitt aus Hannover 1947 unter Franz Konwitschny, der ja zunächst im Westen Karriere machte. Bei der Oper wird man auch sonst umfangreich fündig, wobei einige Szenen für den Film König der Manege eingespielt wurden. Diesem Streifen von 1954 sollten für Rudolf Schock noch etliche folgen. Und bald lockte auch das Fernsehen…
Umfänglich wird bei „Documents“ auch der Liedsänger Rudolf Schock berücksichtigt. Doch ungeachtet einer von Gerald Moore 1958 begleiteten Schönen Müllerin gilt der Sänger auf diesem Gebiet keineswegs als führend. In der Tat ist zu sagen, dass die Interpretationen seines primär romantischen Repertoires bei aller Anerkennung lyrischer Finessen etwas pauschal anmuten. Der emotionale Überschwang bei Richard Strauss (unter anderem Orchesterlieder unter Wilhelm Schüchter) überzeugt hingegen. Hochinteressant ist die Begegnung mit den harmonisch gefälligen Chinesischen Gesängen von Hans Ebert (RIAS 1951) und Ernst Peppings Haus- und Trostbuch (1949, Fragmente aus der Teiluraufführung mit seinem häufigen Klavierpartner Adolf Stauch). Die Gesänge von Mili Balakirev, Alexander Dargomyschski, Nikolai Rimsky-Korsakow und Peter Tschaikowsky aus den frühen Nachkriegsjahren erinnern daran, dass der damals oft in Berlin auftretende Sänger den Repertoirewünschen der russischen Besatzer zu willfahren hatte.
Zu seinem fatalen Image als armer, aber stets gut aufgelegter Wandergesell hat Rudolf Schock Etliches beigetragen, sicher auch etwas leichtfertig. Dreißig Jahre nach seinem Tod sollte es aber möglich sein, sachlich die Spreu vom Weizen zu trennen. Die drei hier vorgestellten Kassetten bieten für eine Neubetrachtung überreichliches Material.