Umfassende Faktensammlung
Um es gleich klar auszusprechen: es ist schlichtweg unmöglich, eine Buchedition, welche zwei dickleibige Bände mit mehr als anderthalb tausend Seiten, mit mehr als tausend Abbildungen und einem Gesamtgewicht von sage und schreibe acht Kilogramm offeriert, in all ihren Details zu beschreiben, zu würdigen und zu bewerten. Dem Autor des Bayreuth-Kompendiums, Oswald Georg Bauer, muss und darf bezüglich mitgeteilter Fakten ganz einfach geglaubt werden. Er ist mit dem Thema seines Buches nicht nur vertraut, sondern regelrecht verwachsen, ihm wahrscheinlich sogar regelrecht verfallen, wie schon seine Wohnungseinrichtung zeigt, die mit ihren Wagner-bezogenen Besitztümern von einem Interviewer vor einiger Zeit mal beschrieben wurde.
Bauer war Assistent des langjährigen Bayreuth-Chefs Wolfgang Wagner, dann auch Pressesprecher der Festspiele. Den Auftrag für die jetzt vorliegende Dokumentation erhielt er von dem Wieland-Bruder höchstselbst und zwar mit der ausdrücklichen Auflage, diese nur auf Basis hundertprozentig belegbarer Quellen zu erstellen. So unternahm Bauer umfangreiche Reisen zu diversen Archiven. Auch stand ihm Verena Lafferenz (*1920), die letzte noch lebende Enkelin Richard Wagners und Tochter von Winifred und Siegfried Wagner, mit ihrem extrem guten Gedächtnis als wichtige Zeitzeugin zur Verfügung.
Die Herkunft des zusammengetragenen Material ist im Anhang penibel aufgelistet (eine bereits für sich genommen faszinierende Lektüre) und erläuternd in den eigentlichen Buchtext eingegangen, ohne diesen rhetorisch über Gebühr zu beschweren. Die beiden materialschweren Bücher sind einschränkungslos gut und verständnisleicht lesbar. Wenn man hier und da in der Lektüre innehält, so nur, um den extrem reichen Stoff angemessen zu verdauen.
Bereits der erste Band bietet entlegene Fakten und Abbildungen zuhauf, welche in der Fülle seltenen Materials bewundernd und im Grunde kommentarlos zur Kenntnis zu nehmen sind. Der zweite beschreibt den Zeitraum nach 1945 (bis 2000) welcher von vielen heutigen Menschen zumindest noch teilweise erlebt wurde.
Bei der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele hatte sich das Prinzip der „entrümpelten“ Bühne noch keineswegs voll durchgesetzt, war visuelles Prinzip nur bei Wieland und (weniger kreativ) Wolfgang Wagner. Für die „Meistersinger“1951 hatte man Rudolf Hartmann engagiert, einen Spezialisten für dieses Werk (fünf Inszenierungen innerhalb eines einzigen Jahrzehnts). Als Ausstatter holte sich dieser Hans C. Reissinger, den Onkel von Wieland Wagners Frau. Dieser war, was Hartmann für wichtig erachtete, nicht Maler, sondern Architekt (mit Aufgaben im Dritten Reich). Vor allem im zweiten Aufzug dürften sich die Zuschauer weit in die Vergangenheit zurückversetzt gefühlt haben. Bauer mit kritischem Unterton: Er „rekonstruierte das zerstörte Nürnberg, als sei nichts geschehen. Es war alles da, wie vorgeschrieben die Stadtsilhouette mit Türmen und Burg, den Standarten, nicht zu vergessen die seitliche Treppe in der Schusterstube, wie sie seit der Uraufführung 1866 gehandhabt wurde.“ Seine Nachgiebigkeit gegenüber diesem historisierenden Stil sollte Wieland Wagner fünf Jahre später gründlich revidieren (im zweiten Aufzug beispielsweise nur zwei unterschiedlich große Fliederbüsche). Betrachtet man seine anderen Ausstattungen, etwa die von „Tannhäuser“ (1954) und „Lohengrin“ (1958), steht allerdings zu vermuten, dass die plakative Symmetrie dieser Inszenierungen, welche sich auch auf die Choraufstellung auswirkte, heute einigermaßen kritisch bewertet würde.
Im übrigen: realistische Elemente bei der Bühnenausstattung wurden auch später (als nach Wieland Wagners Tod Regisseure „von außen“ verstärkt in Bayreuth arbeiteten) nicht gänzlich ausgeklammert, etwa beim heute als Reliquie verehrten „Ring“ Patrice Chéreaus (1976) und noch stärker beim von Jean-Pierre Ponnelle inszenierten „Tristan“ (1981). Das Festspiel-Zepter behielt freilich Wolfgang Wagner in der Hand, ein Mann mit fast schon manischem Bayreuth-Engagement, als Regisseur freilich bestenfalls drittklassig. Sein Bühnenbild zu „Tannhäuser“ (1985) beispielsweise – die Aufführung wurde vom Rezensenten geradezu quälend erlebt – entbehrte jedweder visueller Kreativität, das stupide Schreiten der Wartburg-Gäste war nachgerade ein inszenatorisches Desaster. Aber Wolfgang Wagner hat der Kreativität von Fachkollegen vor Ort niemals gewehrt, sogar ausgesprochen abenteuerliche Engagements getätigt. Ob er sie als persönliche Konkurrenz empfand, bleibt dahin gestellt.
Natürlich wurden Bayreuther Aufführungen auch und sogar besonders auf musikalische Weise unterschiedlich geprägt. Von den Aufführungen, welche der Bayerische Rundfunk seit 1951 kontinuierlich live zu senden und auch aufzuzeichnen pflegte, erschien jüngst der „Ring“ von 1961 unter Rudolf Kempe (klanglich mitunter etwas vage). Die bewährten Wagner-Recken Wolfgang Windgassen und Josef Greindl fehlten diesmal (stattdessen Hans Hopf und Gottlob Frick), „experimentell“ besetzt waren die Wotane Jerome Hines („Rheingold“, „Walküre“) und James Milligan (Siegfried“). Die Aufteilung der Brünnhilden-Partie - Astrid Varnay („Walküre“) und Birgit Nilssson („Siegfried“, „Götterdämmerung“) - deutet (trotz Gleichaltrigkeit der Sängerinnen) an, dass langsam ein Generationswechsel stattfand. Die dritte große Hochdramatische früherer Jahre, Martha Mödl, hatte dem Sopranfach mittlerweile ade gesagt und gab dann als Waltraute ihren Bayreuth-Abschied. Bei den Dirigenten löste ein Prominenter den anderen ab, so auch bei „Parsifal“. Aufschlussreich ist bei diesem Bühnenweihfestspiel die Auflistung der Spieldauern. Am schnellsten war mit 13 Stunden und 17 Minuten Otmar Suitner 1966, ähnlich gedehnt wie Hans Knappertsbusch (1951: 15 Stunden, 20 Minuten) gab sich James Levine (1994; 15 Stunden, 37 Minuten).
Über die akribische Beschreibung aller Neuinszenierungen hinaus gibt es nicht viel, was die Dramaturgie der beiden Buchbände unterscheidet. Der Datumseinschnitt von 1951, mit welchem der zweite anhebt, ist freilich ein gewaltiger. Wagners Musikdramen wurden ab jetzt radikal innovativen Deutungsansätzen unterworfen, welche nicht nur in künstlerischer Hinsicht gewichtig waren, sondern auch mithalfen, eine fatale politische Vergangenheit aufzuarbeiten. Dass diese „Bewältigung“ nicht ohne Stolpersteine vonstatten ging, zeigt die Rolle von Winifred Wagner, Frau des Wagner-Sohnes Siegfried. Als Leiterin der Festspiele von 1930 (Tod Siegfrieds) bis 1944 hielt sie freundschaftlichsten Kontakt zum häufigen Festspielbesucher Adolf Hitler. Noch 1975, als sie Hans-Jürgen Syberberg ein umfängliches Filminterview gab („Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914–1975“), sprach sie – uneinsichtig für vergangene Verbrechen - von ihrem lieben „Wolf“.
Ein Verdienst von Oswald Georg Bauer ist also nicht zuletzt, dass er weder den als Komponist genialen, aber menschlich problematischen Richard Wagner noch die makaber durchsetzte Geschichte Bayreuths schön färbt, sondern Fakten mit wissenschaftlich akribischer Nüchternheit referiert. Seine Dokumentation ist zwar von erkennbarer Zuneigung zum Thema geprägt, kommt aber ohne falsche Beweihräucherung aus.