Sentiment in Zeiten von Gewalt und Zerstörung
Es ist ein Lehrstück, das Regisseur Jochen Biganzoli auf die Bühne bringt. Und weil daran bei Karl Amadeus Hartmanns Simplicius Simplicissimus auch nicht zu rütteln ist, packt Biganzoli den Stier bei den Hörnern und lässt sich von Andreas Wilkens einen Guckkasten mit Klassenzimmer auf die Bühne setzen. Dort spielt in mehreren Epochen – und doch völlig zeitlos – die Geschichte vom Naiven und dennoch Erkennenden, der ob dieses Zwiespalts grauenhafte Zeiten überlebt und auch die Finger in die Wunden legt.
Dass Grimmelshausens Simpel in allen Zeiten seinen Platz hat, zeigt das Regieteam sehr augenfällig und einleuchtend: da trifft der barocke Knabe zuerst auf moderne Schüler, die ihn ob seines Äußeren verspotten. Dann begegnet er einem Landsknecht aus dem Dreißigjährigen Krieg. Der Einsiedel ist ein katholischer Priester auf der Flucht vorm braunen Terror, der mittels Zyankalikapsel sich der Folter entzieht. Hartmanns Libretto verkraftet diesen Zeitenwandel problemlos.
Die Zeitlosigkeit des Themas – die Folgen von Krieg und Gewalt, deren Auswirkung auf die menschliche Persönlichkeit - entfaltet Biganzoli besonders sprechend am Ende der Oper: der naive Simplicius triff auf ein Söldnerheer, das in einer wilden Mischung aus Landsknechtskleidung, Naziuniformen und modernem Flecktarn sich vor laufenden Monitoren mit Bildern von gelenkten Cruise Missiles betrinkt, mit Huren vergnügt und Gefangene foltert. Der Knabe ist angekommen in einer Welt, für die Frieden seit Jahrhunderten ein Fremdwort ist.
Biganzolis Regiekonzept ist gradlinig, zielführend und konsequent, aber es nimmt nirgends mit oder fesselt. Das ist vielleicht aber beim Simplicius Simplicissimus gar nicht gefordert.
Und doch gibt es einen Moment, der die Grauen des Krieges emotional erfahrbar macht: Als der Knabe den toten Einsiedel mit einem wärmenden Wollpullover zudeckt, werden echte Gefühle wahrnehmbar.
Ganz einfühlsam spielt Marie-Christine Haase den Simplicius mit scheuen, eckigen, fast tastenden und puppenhaften Bewegungen. Ihr klarer und leuchtender Sopran bringt alle erst vorsichtig, dann selbstbewusst vorgebrachten Überlegungen fokussiert zum Tragen. Lediglich ihre Sprechstimme benötigt noch ein wenig mehr an Fülle.
Hans Hermann Ehrich – Grandseigneur des Osnabrücker Theaters - stattet den Einsiedel mit viel Würde aus. Sein voller Tenor schafft Ruhe und Gravität. Vor allem sein gesprochener Monolog erheischt völlige Aufmerksamkeit.
Mark Hamann, Daniel Moon und Genadijus Bergorulko als Landsknechte bringen auch ob ihrer unterschiedlichen Stimmfärbungen Leben und Farbe ins Stück. Das schafft auch der Herrenchor des Theaters Osnabrück, der fein balanciert zwischen pöbelhaften Ausbrüchen und ausdrucksvoller Todesangst.
Hermann Bäumer leitet das Osnabrücker Symphonieorchester. Es ist seine letzte Musiktheaterproduktion am Haus (zeitgleich ist er bereits GMD am Staatstheater Mainz). Hartmanns schillernde Partitur mit Anklängen an Bach, Zitaten von Strawinsky und Prokofjew wird sehr plastisch erfahrbar, ist kommentierend und interpretierend zugleich. Fast zerbrechlich die Kantilene der Solo-Bratsche mit einer jüdischen Melodie, massiv das Tutti, andächtig der Nun ruhen alle Wälder-Choral. Den allerletzten Feinschliff bekommt die Musik im Idealfall noch in den Folgevorstellungen.