Übrigens …

Ein deutsches Requiem im Berlin, Radialsystem

Die Zuschauer in Flachspantoffeln

Brahms' Ein deutsches Requiem hat der Rundfunkchor Berlin bereits dreimal auf CD eingespielt und dafür im Jahr 2008 – mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle – einen Grammy gewonnnen.

Auch die Fassung mit vierhändiger Klavierbegleitung hat dieser auf CD verewigt, und in derselben Besetzung – mit den Pianisten Phillip Moll und Philip Mayers, sowie der Sopranistin Marlis Petersen und dem Bariton Konrad Jarnot – erfolgte jetzt auch die szenische Umsetzung im Radialsystem V, für deren Dramaturgie Ilka Seifert und Sasha Waltz verantwortlich zeichnen. 

Sascha Waltz’ Ehemann, der Kulturmanager Jochen Sandig, besorgte die „szenische Einrichtung“ im leeren Saal des Radialsystems. Zur Schonung des Tanzbodens wurden die Zuschauer nur in Flachspantoffeln eingelassen, welche sie im Vorraum Flachssäcken entnehmen und sich selbst anschnüren mussten. Aus dem selben, verrottenden Biomaterial gab es dann geschnürte Kissen für ermüdete, zum Nomadendasein verurteilte Besucher, und ebenfalls aus Flachs waren die Bespannung des fahrbaren Podests für den im Spiel verschobenen Flügel und die später von Kindern ausgerollten Bodentuch-Bahnen.

Der Rundfunkchor, privat gekleidet, mischt sich unter die Zuschauer und beginnt so den ersten der sieben Teile des vom Komponisten selbst aus Texten des Alten und des Neuen Testaments zusammengestellten Opus 45. Im zweiten Teil wird der Raum von Herren und Damen gegenläufig diagonal durchschritten, wobei die Herren auch den Flügel mit sich führen. Einmal wird mit weißem Material („des Grases Blumen“?) geworfen. Zum Bariton-Solo im dritten Teil erfolgen Rundgänge. Im vierten Teil werden zwei mal sieben Schaukeln herabgesenkt, auf denen, „Leib und Seele freuen sich“, zunächst ChoristInnen gegenläufig schaukeln. Im 5. Teil tut es ihnen die Solistin im weißen, durchbrochenen Abendkleid gleich; während die Choristen im Rund der Schaukelkreise am Boden schlummern, entschwindet die Sopranistin engelsgleich über eine Wendeltreppe gen oben. Dem Text, „wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir“, gehorcht die szenische Umsetzung mit rastlos Suchenden den Bewegungsablauf des 6. Teils, wobei hier auch nicht singende Mitglieder von Sascha Waltz & Guests ins Auge fallen; das einzige Mal an diesem Abend drängt sich ein choreographisches Moment mit geschobenen Vierergruppen durch den Raum. Mit Höllenkälte öffnet sich das große Portal für eine Gruppe von Kindern, die im Gegenlicht den Raum betreten – als Visualisierung der Fragestellung „Hölle, wo ist dein Sieg?“.

Aber im letzten Teil wird es doch permanent sukzessive dunkler. Nur der zumeist auswendig, hier aber aus einer im Flügel versteckten Klavierpartitur anfeuernd dirigierende Simon Halsey und die beiden Pianisten bleiben im Restlicht bis zum vorletzten Takt noch sichtbar.

In der Vermischung von Publikum und singenden Akteuren ist der Raum gut, wenn auch arg konventionell genutzt. Der szenische Rahmen erlangt erst bei der Applausordung beißende Ironie: dann nämlich werden allen Darstellern Totenblumen überreicht.

Im großen Raum des Radialsystems wirkt das vierhändige Derivat des Orchestersatzes auf die Dauer merklich dünn. Johannes Brahms hatte damit vermutlich auch weniger ein „Orchester für Arme“ im Sinn, als einen etwas stämmigeren Klavierauszug. Immerhin ah sich Begleiter Phillip Moll genötigt, doch auch als Bearbeiter zu Werke zu schreiten.
Die in der Nähe der Bewegung einzeln zu hörenden, in der Interaktion großenteils sehr zaghaften Chormitglieder intonieren souverän und korrekt, aber die Akustik der ehemaligen Stromerzeugungshalle erschwert die Textverständlichkeit. So vermag der protestantische Gegenentwurf zur Tradition des katholisch liturgischen, lateinischen Requiems textlich nicht zu zünden. Und Brahms’ Harmonik klingt noch deutlicher rückwärts gewandt, als dies schon bei der vollständigen Uraufführung im Jahre 1869 der Fall war.

Im seinem offenen Brief gegen die „Folterkammern der Wissenschaft“ kam Richard Wagner zehn Jahre später zu dem Schluss, die Menschenwürde zeige sich eben da, „wo der Mensch vom Tiere sich durch das Mitleid auch mit dem Tiere zu unterscheiden vermag, da wir vom Tiere andererseits selbst das Mitleiden mit dem Menschen erlernen können, sobald dieses vernünftig und menschenwürdig behandelt wird. Sollten wir hierüber verspottet, von unserer National-Intelligenz zurückgewiesen werden, und die Vivisektion in ihrer öffentlichen und privaten Blüte fortbestehen bleiben, so hätten wir den Verteidigern derselben wenigstens das eine Gute zu verdanken, dass wir aus einer Welt, in welcher »kein Hund länger mehr leben möchte«, auch als Menschen gern und willig scheiden, selbst wenn uns kein »deutsches Requiem« nachgespielt werden dürfte!“

Dieses Fazit erweist sich gerade angesichts der Kombination jenes Deutschen Requiems mit biologisch abbaubaren Hausschuhen aus als ein zukunftsträchtig gültiges Ethos.