Übrigens …

Neue Stücke aus Europa 2012

„Was glotzt ihr so, ihr deutschen Arschlöcher?“

Preklet naj bo izdajalec svoje domovine! – Verdammt sei der Verräter seiner Heimat!

Von Oliver Frljic
Übersetzung und simultane Rezitation: Klaus Detlef Olof
Regie: Oliver Frljic
Licht: Tomaž Štrucl
Ton: Silvo Zupancic

 

The Blue Boy

von Brokentalkers
Übersetzung und simultane Rezitation: Martin Michael Driessen
Musik: Sean Millar

Regie: Feidlim Cannon & Gary Keegan
Bewegungsregie: Eddie Kay
Bühne und Kostüme: Lucy Andrew, David Fagan
Licht: Sarah Jane Shiels
Video: Kilian Waters
Sound: Jack Cawley

 

Otkat – Rückstoß

von Zachary Karabashliev
Übersetzung und simultane Rezitation: Alexander Sitzmann

Regie: Stayko Murdzhev
Bühne: Nina Paschowa
Komponist: Petar Dundakow
Licht: Mariana Bekiarova, Ruzhian Dobridolski
Ton und Multimedia: Dencho Stanev, Nikolay Antonov
3D-Animation: Sdrawko Milenow, Wladislaw Iliew

 

Ubijza – Mörder

von Alexander Moltschanow
übersetzt von Manuela Lachmann
simultan gesprochen von Ralf Siebelt

Regie: Dmitry Jegorow
Bühne: Femistokl Atmadzas

 

 

Die Parallelität zur Fußball-Europa-Meisterschaft war für den Publikumszustrom bei der nun bereits im zwanzigsten Jahre durchgeführten Biennale Neue Stücke aus Europa kein Hindernis, sondern nur ergänzendes, europäisches Beiwerk jenseits der Euro-Währung.

Den Bogen zu der bei der Biennale ebenfalls vertretenen Salzburger Festspiel-Produktion Immer noch Sturm von Peter Handke schlug eine besonders provokante Produktion aus dem ehemaligen Jugoslawien, ein Seitenstück zu Handkes Publikumsbeschimpfung. Der Titel Preklet naj bo izdajalec svoje domovine! – Verdammt sei der Verräter seiner Heimat! ist die letzte Zeile der jugoslawischen Nationalhymne. Die darin zum Ausdruck gebrachte Haltung wird in den Nachfolgestaaten in Form von Hass und Gewalt pervertiert, bis in eine serbische Schauspieltruppe hinein. Der Autor und Regisseur Oliver Frljic hat mit seinem Ensemble biografische Erlebnisse verarbeitet. Auf der nackten Bühne wird grausam viel mit Platzpatronen geballert. Daher wurden dem Publikum vorsorglich Ohrenstöpsel verabreicht, die aber auch von den – sonst zum Teil splitternackten Schauspielern – nicht verschmäht wurden. Die von Bert Brecht adaptierte Agitation,  „Was glotzt ihr so, ihr deutschen Arschlöcher?“ und die Beschimpfung als „Scheiß-Publikum“ sind noch die mildesten verbalen Injurien in diesem drastischen, bisweilen aber auch komischen Stück. Die Darsteller greifen sich einzelne Besucher heraus und beschreiben individuell, auf welch extreme Weise sie diese brutal vergewaltigen wollen. Nachdem wieder einmal fast alle Handlungsträger tot geschossen sind  – diesmal waren die Killer zwei Frauen, die sich anschließend dafür liebkosen –, schließt sich optisch der Bogen zur Anfangsszene, mit leblos im Raum verteilten Instrumentalisten. Doch dann folgt als überlange Coda der eineinviertelstündigen Vorstellung noch eine Chorus Line des Ensembles: Interna aus dem Probenprozess führen nationalistische Haltungen erneut ad absurdum. Das auch musikalisch – mit Klarinette, Tuba, Akkordeon, Trompete, kleiner und großer Trommel und weiterem Schlagwerk – gut bestückte Ensemble erntet in der Wartburg, einer externen Spielstätte des Hessischen Staatstheaters, für seine auf Deutschland adaptierte, serbisch-kroatische Publikumsbeschimpfung ausschließlich Zuspruch.

Den Missbrauch an Kindern in der katholischen Kirche Irlands führt die Gruppe Brokentalkers aus Dublin in Blue Boy, einem „Gesamtkunstwerk aus Schauspiel, Tanz, Video, Live-Musik und Performance“, multipel vor Augen. Eine Schlagzeugerin am rechten Bühnenrand sorgt für Akzentuierungen, und ein Schauspieler verliest am linken Bühnenrand gesammelte dokumentarische Texte zu Kindern, die mit allerlei Blutergüssen oder ungeklärter Todesursache vom Großvater des erzählerischen Ich bestattet wurden. Die Regisseure Feidlim Cannon und Gary Keegan setzen auf Strapaziergestik der Darsteller mit Kindermasken, hinter Gaze dezent entrückt. Seilhüpfen wird als Bedrohung exerziert, während Videos die manuelle Akkordfertigung von Rosenkränzen zeigen. Einer der Darsteller macht schier unglaubliche körperliche Verrenkungen, bis sich herausstellt, dass er seine Kindergesichtsmaske auf dem Hinterkopf getragen hat.

Videoprojektionen sind auch ein wichtiges Element für das vom Ensemble „Bulgarische Armee“ dargebotene Stück Oktat – Rückstoß. Im schwarzweiß gestylten, zweistöckigen Bühnenraum wird eine mit Filmsequenzen durchsetzte Handlung des vielfach prämierten bulgarischen Dichters und Drehbuchautors Zachary Karabashliev abgespult. Im Stück im Stück schildert ein Autor in 17 Szenen die konfliktreiche Beziehung zwischen Vater und Sohn. Wenn sich endlich der Mafiaboss seinem Attentäter gegenüber als dessen Vater outet, kann der ihn nicht mehr hören, da er beim missglückten Bombenanschlag auf den Vater sein Gehör verloren hat. Politischer Anspruch verpufft hier in Design – und in Boulevardmanier.

Ganz anders hingegen Alexander Moltschanows Ubijza – Mörder, vom Moskauer „Theater der jungen Generation“ gespielt in einer Zelle für nur 56 Besucher, die auf der Bühne des Staatstheater-Studios errichtet ist. Hier, im kargen weißen Raum, mit Bettuntergestellen und Stühlen, wird die Intimität zwischen den Rezipienten und den vier Protagonisten räumlich forciert. Die Geschichte vom jungen Verlierertyp Alexej beginnt zwar mit dessen Gottesbeschimpfungen, erweist sich dann aber doch als eine tief in der christlichen Tradition verwurzelte Mixtur aus Thriller, Road Movie und Liebesgeschichte. Alexej soll für seinen Kommilitonen Seka, bei dem er in Schuld steht, Geld einfordern und einen von dessen Hauptgläubigern ermorden. Zur Bewachung gibt ihm Seka seine Freundin mit, – in die Alexej sich verliebt. Die Geschichte mit all ihren wunderlichen Wendungen, wird in der Inszenierung von Dmitry Jegoro mehr erzählt als gespielt. Die personenübergreifende Textaufteilung macht es dem Zuschauer nicht immer leicht. Aber die simultan gelesene Übersetzung Manuela Lachmanns erweist sich als ein sprachlich nachempfindendes Kunstwerk.

Überhaupt haben die Übersetzer und die simultanen Sprecher, bisweilen in Personalunion, erheblichen Anteil am Erfolg der Aufführungen des Festivals Neue Stücke.

Den Übersetzerpreis in Höhe von 1.000 Euro gewann Matthias Knoll für seine Übersetzung Schwarze Milch von Alvis Hermanis aus dem Lettischen.

Erstmals wurde in diesem Jahr ein Publikumspreis vergeben. Durch farbige Zettel konnten die Zuschauer für die jeweils von ihnen besuchte Aufführung ihr Votum abgeben. Angesichts der Tatsache, dass sicher nur wenige Besucher alle Aufführungen dieses Festivals gesehen haben und angesichts höchst unterschiedlich großer Auditorien ist die Wahl als erstaunlich: der russische Beitrag Obijza – Mörder, der in der kommenden Spielzeit am Staatstheater Mainz seine deutschsprachige Erstaufführung erleben wird, gewann den Preis als beliebtestes Stück.