Übrigens …

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern im Berlin, deutsche Oper

Wem die Kälte tönt

Die Deutsche Oper Berlin traut sich was. Verkneift sich zum Saisonauftakt den Griff in die musiktheatralische Hitparadenkiste. Mutet uns vielmehr einiges zu. Klänge von suggestiver Kraft etwa oder die Illustrationsmacht eines Geräusches. Verbunden mit drei Texten, die alles andere als schönen Gesang erfahren müssen – Laute sind hier wichtiger denn das gesprochene Wort, Sätze geraten in den Häcksler, alles wirkt fragmentarisch, ja deformiert, ohnehin nahezu unverständlich. Kurzum: Die Avantgarde hält Einzug ins nunmehr 100 Jahre bestehende Haus, in Form von Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern.

„Musik mit Bildern“ nennt der 77jährige Komponist sein Werk, das 1997 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt wurde, mit nur wenigen Nachspielstationen, etwa in Paris und Stuttgart. Das ist nicht zuletzt dem gewaltigen Aufwand geschuldet, dessen es bedarf, diese zweistündige Vertonung des berühmten Andersen-Märchens auf die Bühne zu wuchten. Wobei, dem Titel entsprechend, das Orchester die herausragende Rolle spielt. Ein riesiger Apparat, geschätzte 140 Köpfe stark, der sich im ganzen Raum ausbreitet. Um so dem Publikum von allen erdenklichen Seiten auf den Hörnerv zu rücken. Da kann es bisweilen laut werden, doch niemals traktiert uns Lachenmann mit enervierenden Motivschleifen oder aggressiven Brachialklängen.

Schließlich ist Das Mädchen mit den Schwefelhölzern ein trauriges Stück, ein stilles Drama um ein kleines Mädchen, das Zündhölzer verkaufen muss, um die familiäre Armut abzumildern. Das aber nunmehr, in der bitterkalten Silvesternacht, keinen Abnehmer findet und sich nicht traut, nach Hause zu kommen. Das deshalb kleine Feuer entfacht, in den Flammen eine friedliche Welt voller Wärme imaginiert, um letzthin in der harten Realität zu erfrieren.

Wenig Handlung, vielmehr eine Abfolge von Zuständen. Lachenmann setzt genau hier an, komponiert die bedrückende Stille, in die sich kleine Geräusche drängen. Entlockt dem Instrumentarium so eine Fülle von Lauten jenseits des altbekannt Tönenden, die etwa ein Streichholzratschen illustrieren sollen. Zwischendurch dringen Stimmfetzen aus einem Radio, die Realität einer Außenwelt andeutend. Entscheidend aber ist die Vernetzung der Klänge, die sich flächig ausbreiten, in oft größter Ruhe. Andererseits, um der Dramatisierung willen, hören wir akkordische Kraftfelder von eminenter Wirkmacht.

Die Spannung indes, die Lachenmann aus dem Märchen schöpft, scheint ihm nicht genug. Und so greift er auf zwei weitere Texte zurück, ein systemkritisches Pamphlet Gudrun Ensslins sowie Leonardo da Vincis Worte über einen Wanderer, der sich neugierig einer Höhle nähert und doch Furcht verspürt hineinzugehen. Das märchenhafte Sujet um Einsamkeit und Kälte wird erweitert. Einerseits durch Fokussierung auf das Anprangern sozialer Missstände, das sich einst in zündelnder Gewalt entlud. Zum anderen auf das Gefühl des Unbehaustseins.

Dies zu bebildern, wo es doch bei einer derart illustrativen Musik kaum des Visuellen bedarf, dies in Szene zu setzen, wo doch das Handlungsgerüst ein äußerst fragiles ist, scheint das Schwierigste. Dem Regisseur David Hermann sowie Christof Hetzer (Bühne/Kostüme) den Vorwurf zu machen, der (stillen) Wucht der Musik nur beliebiges Assoziationstheater beigemengt zu haben, ist deshalb wohlfeil, zumindest aber einer eher oberflächlichen Betrachtung geschuldet. Denn die Dramen, die sich hier auf drei Ebenen, in den Zimmern und dem Luftschacht eines dreigeschossigen Lofts abspielen, haben es in sich.

Unten ein Salon, von Vorhängen begrenzt, inmitten ein Flügel mit Klavierbänkchen, seitlich ein Tisch, darauf ein riesiges Buch liegend. Den zwei Mädchen, die dort agieren (Hulkar Sabirova und Yuko Kakuta), hat Lachenmann eigentlich einen reinen Sprech- und vokalisenstarken Gesangspart zugeordnet. David Hermann aber lässt die beiden zittern und zagen, sich ängstlich unterm Klavier verkriechen, wilde Geschichten imaginierend – alles ausgelöst durch die Lektüre des Buches. Kindliche Überreaktion auf ein Märchen, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern.

Dessen Protagonistin bleibt in Lachenmanns Werk stumm, sich durch den Luftschacht windend, einem Peiniger entkommend, einen wohligen Platz suchend, im Verschlag des Dachbodens ein bisschen á la Gudrun Ensslin zündelnd, zuletzt in den Himmel fahrend. Mit der toten Großmutter, wie im Märchen. Dann prangen Sternlein und es wird ein bisschen kitschig.

Die dritte Szenerie, die Hermann in einem kleinen Zimmerchen verortet, gerät weit rätselhafter. Ein Video erzählt von sommerlich idyllischer Zweisamkeit, aus der ein Eifersuchtsdrama erwächst. Die Frau geht ins Wasser. Offenbar wird sie gerettet. Denn am Ende findet sie in eben jenem Zimmer Zuflucht im Kühlschrank. Während der Mann sich eine Decke über den Kopf hängt. Alles verhüllt, tot, erstarrt. Kleine perkussive Inseln scheinen die Zeit anzuhalten, bevor die kalte Stille eintritt.

Der Applaus bricht den Bann. Er gilt naturgemäß zuerst Chor und Orchester der Deutschen Oper, die in höchster Konzentration und selbstbewusster Sicherheit manches Klangwunder zelebrieren. Dirigent Lothar Zagrosek, der bereits die Uraufführung leitete, ist dafür umsichtiger Garant. Warmer Applaus auch fürs Regieteam, das der tönenden Kälte Bilder zuordnet, die in all ihrer Verstörung doch haften bleiben.