Übrigens …

Fürst Igor im Hamburgische Staatsoper

Russendisko klassisch

Fürst Igor wird an deutschen Opernhäusern selten gespielt und geht dann häufig in einer Sauce von Folklore- und Russlandklischees verloren. David Pountney versucht in seiner Inszenierung, die zuvor schon in Zürich zu sehen war, bewusst, dieser Falle zu entgehen; er vertauscht die ersten beiden Akte, um die bekanntesten Stellen der Partitur, die berühmten „Polowetzer Tänze“ gleichsam aus dem Zentrum zu ziehen. Er zeigt sie zudem – brillant choreographiert von Renato Zanella und ebenso getanzt von Eleven des Hamburg Ballets – als fast rauschhafte Unterdrückungs- und Unterwerfungsrituale. Dennoch entgeht Pountney Kitsch und Klischee nicht. Zu verführerisch scheint es zu sein, dem Russen an sich Wodkaflaschen in die Hand zu drücken und Pelzmützen aufzusetzen. Aus Igors Gegenspieler Kontschak, eigentlich eine ungewöhnliche Figur im Spannungsverhältnis zwischen niedriger Kulturstufe und hoher moralischer Integrität, machen Pountney und der mit den extremen Tiefen kämpfende Bassist Tigran Martirossian ein immerhin charmantes, hyperaktives Steppenmonster mit Wuschelaccessoires und aufgesetztem Dauergrinsen. Und über die alberne, weil richtungslose „Pussy Riot“–Anspielung am Schluss muss gar nichts gesagt werden.

Die Ausstattung von Robert Innes Hopkins (Bühne) und Marie-Jeanne Lecca (Kostüme) zitiert zu Beginn viel Historisches, um sich dann zunehmend der Gegenwart anzunähern. Zentrum des Bühnenbildes ist eine modern stilisierte Kirche, die szenisch stark mit Igors Frau Jaroslawna verknüpft ist. Pountney erzählt mit guter, das Singen an der Rampe allerdings arg oft gestattender Personenführung, von Ambitionen einzelner, die Katastrophen für alle nach sich ziehen, aus denen trotzdem Mythen entstehen. Sein Igor ist ein müder Herrscher, der in den Krieg zieht, um dem Alltag zu entkommen und sich persönlich etwas zu beweisen. Dies wäre allerdings auch ohne den klobigen Schreibtisch zu verstehen gewesen, der den ausdrucksvoll und differenziert singenden Andrzej Dobber quasi auf Schritt und Tritt begleitet. Zweiter Hauptdarsteller ist der von Christian Günther prachtvoll einstudierte Chor: das Volk, das immer die Rechnung zahlt. Hier gelingt Pountney fast alles. Trauer und Wankelmut, Leid, Elend und unkanalisierten Enthusiasmus umfasst das Ausdrucksspektrum des Staatsopernchores in Bestform. Auch das Solistenensemble agiert in seltener Geschlossenheit. Dovlet Nurgeldiyev lässt als Igors Sohn Wladimir bildschönes Tenormaterial hören, Rafal Siwek trumpft als viehischer Thronprätendent Galitzky gnaden-, aber nie geschmacklos auf und Veronika Dzhioeva formt mit großer Ausstrahlung und noch größerer Musikalität Jaroslawnas Klagen geradezu modellhaft aus.

Am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters steht GMD Simone Young. Sie brettert durch die an sich sehr schöne Ouvertüre, als hätte sie am selben Abend noch jede Menge weitere Termine. Danach erklingt Musik. Schöne, herrliche, hochatmosphärische Musik mit weit ausschwingender Kantilene und reich schillerndem, oft exotischem Kolorit. Plötzlich sind Dirigentin und Orchester für einen Abend ein Herz und eine Seele und beleben Borodins gewaltiges Fragment, dem man auf der Bühne gern öfter begegnen würde.