Den Kapitalismus bei den Eiern packen
In der mustergültigen Demokratie Deutschland muss man nicht lange suchen: Bei jedem Handgriff, den einer tut, jedem Projekt, das einer realisieren will, finden sich genügend Bürger, die mit mustergültiger Political Correctness und vollständigem Mangel an Gelassenheit eine Initiative dagegen gründen. Beim tanzhaus nrw in Düsseldorf zum Beispiel wird das Gastspiel von Coraline Lamaisons Narcisses Ende Oktober 2012 ohne einen der imposantesten Darsteller über die Bühne gehen, denn der lebende Wolf, der in seiner Pariser Heimat nachrichtlich mit einer Wolfs-Ruhe und tierischem Vergnügen seine Theater-Auftritte absolviert, wurde von der militanten Tierschutzorganisation Peta und einigen anderen Aktivisten verhindert. Philipp Löhles Held Gospodin kennt solche Probleme. Greenpeace hat ihm nämlich sein Lama weggenommen, mit dem er bisher seinen Lebensunterhalt erbettelte.
Noch in der ersten Szene wird ihm auch noch der Verstärker weggenommen werden, so dass mit Musikhören Essig ist. Mikrowelle, Fernseher und Kühlschrank werden folgen. In Kathleen Draegers Inszenierung am Theater Erlangen verschwinden nach und nach auch die Wände von Gospodins frugaler Wohnung. Eugen Drewermann müsste angesichts von Gospodins Lebenseinstellung das Herz aufgehen – Eigentum sei Diebstahl, behauptet der Schriftsteller und Moraltheologe, und jedes Wirtschaftssystem sei schief gewickelt, das den Menschen nach seiner Leistungsfähigkeit und der Effizienz seiner gesellschaftlichen Aktivitäten beurteile. Gospodin sieht das genauso, wenn auch erheblich weniger verbissen als der moralinsaure Linksintellektuelle: Besitz mache abhängig und unfrei und sei daher abzulehnen; in einem gerechten Wirtschaftssystem dürfe Geld nicht nötig sein. Gospodins Dogma, Beruf und Lebensprogramm: „Den Kapitalismus bei den Eiern packen!“ – Das sei „eine Berufung … Wie für fanatische Moslems der Djihad“, heißt es einmal.
Nein: Gospodin aber ist zwar konsequent, doch nicht fanatisch. Nicht umsonst trägt er seinen Künstlernamen, die russische Anrede für „Herr“ oder „Bürger“: Gospodin ist weniger ein Drewermann als vielmehr ein Oblomow – ein sympathischer Verweigerer, der einschläft, wenn er wütend wird. Freiheit sei, nichts entscheiden zu müssen, sagt er – und wünscht sich ein System, in dem „einfach kein Entscheidungsbedarf besteht.“ Das ist der Graus eines jeden Wirtschaftsliberalen – sogar ob Drewermann so weit mitgehen würde, erscheint zweifelhaft. Unter Stress gerät Gospodin dennoch. Denn sein nicht-monetärer Tauschhandel bringt ihm irgendwann eine blaue Tasche ein, die voll mit dieser obszönen Materie genannt Geld steckt. Als er versucht, die Tasche wieder los zu werden, blüht ihm das größte Glück. Er landet in seinem persönlichen Paradies. Wo alle arbeiten, es aber kein Geld gibt. Und nichts zu entscheiden. Wo er ein Zuhause hat. Und Sicherheit. Wo er die Grenzen kennt. Er landet im Knast.
Mit Genannt Gospodin hat Philipp Löhle ein großartiges Stück geschrieben, das im Jahre 2008 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert war, aber bei den „Stücke“-Tagen zu Unrecht durchfiel. Es ist voller Witz und unvorhergesehener Wendungen, voller skurriler, liebenswert geschilderter Figuren und urkomischer Formulierungen. Es ist eine scheinbar leichthändige Komödie mit Humor und Tiefgang und ohne jede Verbissenheit geäußerte Kapitalismuskritik. Das Stück bereitet großes Vergnügen, regt aber auf unanstrengende Weise zum Nachdenken über unsere Erfolgsfixierung und unser Statusbewusstsein an. Kathleen Draegers Inszenierung hat nicht die Rasanz und das unbändige Temperament von Kristo Šagors Bochumer Uraufführung, die den Zuschauer bereits nach 30 Sekunden voll vereinnahmt hatte (auch als Hilfskraft für die Requisiten!), doch sie hat ein stimmiges Timing und lässt mehr Zeit zum Nachvollziehen der einzelnen Pointen und der überraschenden Volten der Handlung. Insgesamt bleibt der Abend allerdings ein wenig brav und statisch; kleine Ansätze, die Absurdität des Texts auch einmal mit grotesken Spielszenen zu bebildern, werden leider nicht weiterverfolgt. Anja Thiemann versucht es einmal, als sie einen der die Dialoge regelmäßig unterbrechenden Kommentare mit über der Rückwand des Raumes hängendem Oberkörper spricht.
Das Theater Erlangen wurde im Jahre 2005 das Sprungbrett für den Jung-Dramatiker Philipp Löhle, als Katrin Linder dort sein erstes Stück Kaufland uraufführte. Jetzt wird es mit einem Löhle-Stück zum Sprungbrett für zwei junge Schauspieler, die mit Gospodin in ihr erstes festes Engagement nach der Schauspielschule starten. Insbesondere Benedikt Zimmermann überzeugt mit zwei komödiantischen Husarenstücken – als weltfremd-naiver Nachwuchs-Künstler Norbert und als nur scheinbar fürsorgliche Etepetete-Mutter, die Gospodin anpumpt und dann mit ihrem Verehrer zu dem erzkapitalistischen Vergnügen einer Kreuzfahrt aufbricht, reißt er das Premieren-Publikum zu Szenen-Applaus hin. Daniel Seniuk, Erlangen-Debütant auch er, aber mit ein paar Jahren Vorerfahrung an anderen Häusern, gibt den Gospodin als trotzigen, sturen Systemverweigerer, wirkt aber ein wenig zu intelligent und zu kraftvoll, um auch die Naivität des Oblomow-Träumers zu beglaubigen. – Das Publikum war’s zufrieden und feierte ein großartiges Stück und ein junges, frisch aufspielendes und ausgesprochen sympathisches Ensemble.