Übrigens …

Heiden im Nationaltheater Mannheim

Einsam unter Gottsuchern

„Worüber soll man überhaupt schreiben, wenn man nicht einmal richtig gelebt hat? Gedankenfetzen – das ist alles, was ich auf diesem Papier, in dieser Minute, an diesem Tag hinterlassen kann. Ein bescheidenes Vermächtnis“, heißt es in Anna Jablonskajas biografischem Essay „Von Prometheus und Buchenwald“ aus dem Jahre 2006. Als die ukrainische Nachwuchsdramatikerin am 24. Januar 2011 bei einem islamistischen Terroranschlag am Moskauer Flughafen ums Leben kam, hieß es in einer Moskauer Zeitung: „Mit ihr starb möglicherweise die Zukunft der russischen Kultur.“

Zu Lebzeiten war der 29-Jährigen größere öffentliche Wahrnehmung verwehrt geblieben, nun hat das Mannheimer Nationaltheater ihrer gedacht. Heiden lautet der lakonische Titel von Jablonskajas wohl markantestem Stück, Schauspieldirektor Burkhard C. Kominski brachte die deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne.

Einfühlsam und ironisch zugleich skizziert er das Bild postsowjetischer Misere. Zu sehen ist ein spartanischer Wohnraum: Zwischen Esstisch und Dusche Umzugskartons, kein Raum zum Leben. Auch in der Familie kaum Zusammenhalt: Während Marina, gestresste Immobilienmaklerin und überforderte Familienmanagerin, ihre Nächte mit Nähen zubringt, um Tochter Kristina das Studium zu finanzieren, zieht sich ihr Ehemann, der gescheiterte Musikus Oleg, in Phantastereien zurück.

Die Gefühle füreinander sind erkaltet, die Ehe ist nichts als Patina über tiefen Rissen. Umso mehr drängt Marina ihren versoffenen Schwager, die Wände neu zu streichen: Hinter der Fassade ein dunkler Untergrund aus Verzweiflung und Verdruss. Gott hat dieses kaputte Parkett schon längst verlassen.

Als Marina dann noch erfährt, dass ihre Tochter Kristina, die stille Protagonistin des Dramas, von der Uni geflogen ist und dubiose Männerbekanntschaften haben soll, kommt es zum erbitterten Streit: Aus weiter Entfernung brüllen, blöken, reden sie aneinander vorbei.

Wenn Marina wutentbrannt beklagt, „immer allein, das ganze Leben allein“ zu sein, trifft das auf die meisten von Jablonskajas traurigen Helden zu: Einsamkeit und Ohnmacht prägen ihr Dasein. Als die Autorin im Januar 2011 eine Fehlgeburt erleidet, ist sie an jenem existenziellen Tiefpunkt angelangt, der schon zuvor in ihren Werken sichtbar geworden war. Da stellt sich die Frage nach Glauben und Sinn, nach dem Göttlichen. Eine Mischung aus nietzscheanischem Nihilismus’, Gogols grotesken Zerrwelten und dem anklagenden Radikalismus einer Sarah Kane durchzieht Jablonskajas fast zwanzig Theaterstücke: Stets versuchen sie die Balance aus Fragilität und Provokation, aus Hoffnung und Untergangsgewissheit zu halten.

Richtig in Fahrt kommt das Kabinett der Gottlosen in Heiden daher erst, als unvermutet die missionarische Erlöserfigur Großmutter Natalja auftaucht und den Wohnraum zu einer Kirche umfunktioniert. Aus den transzendenzlosen Kippfiguren und Alltagspragmatikern werden gebetshörige Kopfnicker. Tanzt Kristina, gespielt von Katharina Hauter, noch rebellisch mit grüner Pussy-Riot-Maske zu Rockbeats dagegen an, überlagern sakrale Chorgesänge die „Sinnlosigkeit des Weltenfundaments“. Zwar beträufelt „Sankt Senilia“ Natalja alles gewissenhaft mit Weihwasser, doch die Dämonen sind nicht mehr weit. Zu spät nimmt die Familie Anteil am Leiden Kristinas. Liebeskummer treibt sie in einen Suizidversuch, am Krankenbett rasen die Götzenbilder aufeinander zu. Natalja leiert Gebete herunter, und Bootsmann besprüht den Raum mit Schnaps und Zigarettenrauch. Warum letztlich Kristina wieder erwacht, bleibt ungewiss. Eine Erleuchtung? Wer weiß.

In diesem rätselhaften Ende gibt sich eine Poetin des Zerfalls und zugleich des Wundersamen zu erkennen. Ihr Wirken war ein Anschreiben gegen die Weltordnung, die wenigstens ihre Heldin Kristina schließlich zu überwinden vermag. Mannheim erweist Anna Jablonskaja mit „Heiden“ eine würdige Hommage.