Übrigens …

Onegin im Hamburgische Staatsoper

Getanzte Gefühlswelten

Vor fast fünfzig Jahren kreierte John Cranko, der legendäre Meister des „Stuttgarter Ballettwunders“, sein Ballett Onegin nach Puschkins Versroman. Heute ist es weltweit so populär wie kein anderes Handlungsballett des 20. Jahrhunderts, außer vielleicht Romeo und Julia auf Schostakowitschs unvergleichliche Musik. Dass Crankos Onegin  tatsächlich ein Neoklassiker der Extraklasse ist, beweist die Neueinstudierung des Hamburg Ballett in der originalen romantischen Ausstattung von Jürgen Rose mehr als eindrucksvoll. Psychologisch subtil zeichnet Cranko die Charaktere als sensible Zeitgenossen. Die Hamburger Solisten leben ihre Rollen trotz der technisch sehr hohen Anforderungen. Begeistert feierten die Hanseaten sie in der voll besetzten Hamburgischen Staatsoper bei der Premiere am ersten Adventsonntag.

Es ist die einzige Premiere in dieser besonders ballettreichen Saison an der Alster. Die Spielzeit steht ganz im Zeichen des 40-jährigen Jubiläums von John Neumeier als Ballettintendant. Drei Wochen, anstelle der üblichen zwei Wochen, werden im Juni 2013 die Hamburger Balletttage dauern. Reprisen und Potpourris bilden das Defilee von Neumeiers einzigartig umfangreichem choreografischen Schaffen. Die „Retrospektive“ schließt aber eben auch ein Stück Rückblick auf Neumeiers persönliche Karriere vom jungen Tänzer im Stuttgarter Ballett bis zum deutschen Ballett-Papst ein. In Crankos Onegin stand der Amerikaner bei der Uraufführung 1965 als blutjunger Gruppentänzer auf der Bühne des Württembergischen Staatstheaters - und träumte davon, eines Tages so ähnliche Werke wie Cranko zu schaffen. Das ist ihm mit Literaturballetten wie Ein Sommernachtstraum, Die Kameliendame und Endstation Sehnsucht gelungen.

Crankos eigenes Libretto für Onegin folgt weitgehend dem für Peter Tschaikowskys Oper Eugen Onegin. Auch die Musik stammt vom Großmeister des klassischen Balletts. Nur leider ist es ein mehr als dürftiges Arrangement aus vorwiegend unbekannten kammermusikalischen Frühwerken, die der frühere Stuttgarter Repetitor Kurt-Heinz Stolze instrumentierte und aneinander reihte (angemessen wiedergegeben von den Philharmonikern Hamburg unter dem vorzüglichen Ballettexperten James Tuggle). Allein die Arie des Fürsten Gremin klingt zweimal kurz an, sonst nichts aus der Oper. Ein einziger Walzer, eine Mazurka, eine Polka und eine Polonaise geben den tänzerisch genialen Folklore- und Ball-Ensembles Pepp.

Das Besondere an Crankos Choreografie bleibt seine superbe Charakterzeichnung, die die Hamburger Tänzer - pardon! - womöglich noch besser realisieren als manche Stars der Stuttgarter Originalbesetzung (zweimal gesehen). So berührt Silvia Azzoni als introvertiert-schüchterner Teenie, der gegen seine blasse Unscheinbarkeit kämpft, um den blasierten Gutsherrn Onegin zu gewinnen. Als Fürstin Gremin ist sie später hinreißend schöne, den Gatten anhimmelnde Grande Dame, lässt sich aber bei der unerwarteten Begegnung mit Onegin für Momente zu leidenschaftlichem Aufflackern ihrer unterdrückten Liebe hinreißen - um ihn, der nun um eine zweite Chance bettelt, schließlich so eiskalt abzuweisen wie er einst sie selbst.

Charismatische Ausstrahlung verströmt Alexandre Riabko als dieser hochmütige Aristokrat. Soviel aalglatte Eleganz gepaart mit Eiseskälte lässt erschauern. Dass er dennoch Mensch ist wird sichtbar, als er weinend zusammenbricht, nachdem er Lenski - seinen Freund, mit dessen Braut Olga er provozierend bei Tatjanas 16. Geburtstagsfeier flirtete - im Duell erschossen hat. Lebensfroh unbefangen und schön als junges Liebespaar geben sich Thiago Bordin (Lenski) und Leslie Heylmann (Olga). Die Pas de deux der beiden Paare atmen Stil, Leidenschaft, Authentizität und technische Bravour. Die Tänze des Corps de ballet gipfeln in den gesprungenen Diagonalen der Landjugend am Ende des 1. Akts. Was für ein reicher Ballettabend!